Leipziger Buchmesse beginnt: Mit der Krise tanzen

Die Leipziger Buchmesse besteht aus mehreren Klimazonen. Und man erfährt Neues aus Ungarn und vom Schreiben im Angesicht des Krieges.

grüne Plastik-Dinos zwischen Messebesuchern

In den Messehallen wechseln die Klimazonen. Vereinzelt trifft man sogar auf Dinos Foto: Filip singer/EPA

Von einer Klima­zo­ne in die nächs­te: Die Temperaturen schwanken ein wenig je nach Gebäudeteil, in den man von der gewächshausähnlichen Glashalle der Messe Leipzig aus einbiegt. Am wärmsten ist es bei den Mangafans, die sich bunt (oder knapp) bekleidet über Comics informieren.

Doch in Wallung gerieten auch einige nicht kostümierte Messebe­su­che­r:in­nen. Nach Bundeskanzler Scholz sah sich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag mit propalästinensischen Protestrufen konfrontiert.

Mehrfach musste der SPD-Politiker seine Rede unterbrechen, bis alle Aktivisten aus dem Saal geführt worden waren. Weitere Störungen sind nicht ausgeschlossen. Ein paar Formate zu Israel und dem Krieg in Nahost stehen noch auf dem Programm.

Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse wurde in der Kategorie Belletristik Barbi Marković mit „Minihorror“, Kurzgeschichten über Arbeits- und Beziehungsalltag. Zum besten Sachbuch gekürt wurde Tom Holerts „‚ca. 1972‘. Gewalt – Umwelt – Identität – Methode“ über das Jahr 1972 im Kontext der revolutionären Euphorie von 1968.

Die Leichen des Kriegs

Revolutionen, Kriege und Krisen spiegeln sich auf der Buchmesse durchaus wider. Die Ukraine hat wie im vergangenen Jahr einen eigenen Stand, Thema ist der Krieg aber auch im Kontext der Niederlande, die zusammen mit Flandern in diesem Jahr eher harmloses Gastland der Messe sind – sieht man einmal vom Erstarken der Rechten im königlichen Flachland ab.

Die niederländische Autorin Lisa Weeda schreibt in ihrem Roman „Tanz, tanz, Revolution“ zwar nie explizit von der Ukraine, doch Besulia, das Land, das von seinem nördlichen Nachbarn angegriffen wurde, ist leicht mit ihr zu verwechseln. Die zahlreichen Leichen, die der Krieg tagtäglich produziert und die wie von Zauberhand in den Wohnungen der Menschen in einem anderen, vom Krieg verschont bleibenden Landes auftauchen, können im Roman, den Weeda in Leipzig bei einer Diskussionsrunde vorstellt, frei nach Pina Bausch wieder lebendig getanzt werden.

Eine Frage paust sich durch ihre schnörkellose, auf Effizienz getrimmte Sprache: Was passiert, wenn wir mit unserem Körper für Leid und Leiche verantwortlich gemacht werden?

Weeda ist in den Niederlanden geboren, ihre Vorfahren stammen aus der Ukraine. Dmitrij Kapitelman, der auf der Bühne in der Schaubühne Lindenfels neben Weeda sitzt, kam in Kyjiw zur Welt und mit acht Jahren nach Deutschland. In seinem Roman „Eine Formalie in Kiew“ erzählt er vom bürokratischen Hindernislauf, der nötig wird, um einen deutschen Pass zu erhalten. Die Struktur des Einwanderungsprozesses sei so gestaltet, dass möglichst viele Menschen aufgeben, bilanziert Kapitelman.

Epoche des „Trans“

Die Schaubühne Lindenfels ist einer von zahlreichen Außenposten der Leipziger Buchmesse. Auf dem Messegelände selbst drängen sich unterdessen die Besucher:innen. Im Zelt des Gastlands wird es ganz besonders eng, als die niederländische Autorin Connie Palmen auftritt. Ihr neuer Essayband „Vor allem Frauen“ kreist um weibliches Künstlertum. Dabei leitet Palmen auch Diagnosen über die Zeit ab.

„Wir leben in der Epoche des ‚Trans‘ “, sagt Palmen, die wie so viele ihrer niederländischen Schrift­stel­ler­kol­le­g:in­nen wie selbstverständlich Deutsch spricht. Niemand müsse in seiner Stadt oder seinem Geschlecht wohnen bleiben. Deswegen seien die Menschen heute so verunsichert, meint sie. „Es gibt kein Schicksal mehr.“

Um Gegenwart in Literatur zu übersetzen, suchen einige Au­to­r:in­nen momentan ihr Heil in der Übertreibung. So enthält „Der Fluch des Hasen“ von Bora Chung, dessen Übersetzerin Ki-Hyang Lee in Leipzig ausgezeichnet wurde, Geschichten, die sich zwischen Märchen, Horror und Fantastik bewegen.

Junge ungarische Literatur

Surreal packt auch Panni Puskás das Leben im populistischen Ungarn in zynische Prosa, erzählt von nackten, marodierenden Kindern und seltsamen Ureinwohner:innen. Es tut gut, von junger ungarischer Literatur zu hören, hallen die alten Großmeister wie Nádas, Kertész, Esterházy doch immer noch so laut nach, dass Neueres hierzulande kaum vernehmbar ist.

Wie die Übersetzerin Christine Schlosser auf der Messe erzählt, hat der Berliner Über­set­ze­r:in­nen­kreis für ungarische Literatur daher eigenständig junge Literatur aus Ungarn für den Sammelband „Anscheinend gehört die Welt uns?“ ins Deutsche übertragen. Von Verlagen wünscht sie sich mehr Mut zum Risiko, auch Unbekanntes aus dem Land des Zauberwürfels für deutsche Le­se­r:in­nen zugänglich zu machen.

Das ist unbedingt geboten, denn von den Un­ga­r:in­nen lässt sich lernen: Davon zu lesen, wie es sich im Populismus lebt, besitzt traurige Aktualität. Auch in Deutschland. Gerade in Sachsen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.