Auftakt zur Leipziger Buchmesse: Wortmacht, Geplänkel und Geschrei
Am Mittwoch begann die Leipziger Buchmesse mit der Preisverleihung an den Philosophen Omri Boehm. Auch mit dabei: unsägliche Störer.
Man hätte ja gerne etwas gehört von den einleitenden Worten, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochabend im Leipziger Gewandhaus spricht. Scholz redet – ausgerechnet – über das „Lesen als Zulassen“ anderer Sichtweisen, über Literatur als Schlüssel zum Weltgeschehen-Verstehen. Eine eher gute Scholz-Rede.
Doch seine Worte gehen unter in Geschrei von Einzelnen aus dem Publikum, die überwiegend Unverständliches brüllen, es sind Sätze zu vernehmen wie: „Es ist keine humanitäre Katastrophe, es ist ein Genozid.“ Es geht, natürlich, um die Israelpolitik der Bundesregierung. Und die propalästinensischen Aktivist*innen demonstrieren (sic), was sie von Dialog halten: nichts. Minutenlang brüllen sie, dann werden sie des Saals verwiesen. „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen – nicht die des Geschreis“, sagt Scholz und erhält viel Applaus.
Es ist der Eröffnungsabend der Leipziger Buchmesse, geehrt werden soll – wieder: ausgerechnet – der durch und durch versöhnliche israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm. Boehm schwebt die Vision eines binationalen israelischen Staates vor, deren realpolitischen Gehalt man nach dem 7. Oktober mit guten Gründen bezweifeln kann. Ausgezeichnet wird er aber für sein Werk „Radikaler Universalismus“.
Was ist Aufklärung?
Darin bringt er universalistische Werte der kantianischen Aufklärung gegen die zwangsläufig partikulare Identitätspolitik in Stellung. Durch die Neudeutung dreier historischer Texte – der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Immanuel Kants „Was ist Aufklärung?“ und der biblischen Geschichte Abrahams und Isaaks – begründet er allgemeingültige menschliche Gesetze und Pflichten, die über (staatlichen, juristischen) Gesetzen stünden.
Die Laudatio für Boehm hält die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz, die einen entscheidenden Satz aus dem Werk zitiert: „Universelle Normen beziehen sich auf Menschen, gehen aber über jede menschliche Autorität hinaus.“
Die Laudatio und Boehms Dankesrede zählen zu den besseren Momenten des Abends. Boehm sagt in Richtung der Demonstrant*innen, sie hätten „einen schrecklichen Fehler“ begangen, indem sie einen Redner niederbrüllten, in seinem Buch stelle er ein gegenteiliges Diskursmodell vor. Zuhören aber solle man ihnen dennoch.
Moralischer Bankrott
Auch über das Leid des Kriegs auf beiden Seiten spricht er abwägend: „Wir schauen auf die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza am 7. Oktober […] und erleben dann den moralischen Bankrott jener angeblichen Radikalen, die dies ‚bewaffneten Widerstand‘ nennen. Wir schauen auf die Zerstörung des Gazastreifens – […] und erleben dann, wie angebliche liberale Theoretiker eine humanitäre Waffenruhe im Namen der ‚Selbstverteidigung‘ monatelang delegitimieren.“
Boehm redet auch über israelisch-palästinensische Freundschaften. „Von Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen erscheint für einen Augenblick mehr als naiv oder ‚utopisch‘ – es erscheint fast grotesk“, erklärt er an einer Stelle. Um dann zu sagen, dass es genau diese nun brauche, um sich von Fanatikern auf beiden Seiten loszusagen.
Man kann zwar vielen dieser aussöhnenden Sätze zustimmen – dass sich die Worte aber in Realität umsetzen lassen angesichts dessen, was die Hamas am 7. Oktober ausgelöst hat, erscheint illusionär.
Flache Fragen
Der Eröffnungsabend in Leipzig gerät zum Teil aber auch zu peinlichem Geplänkel. Als Vertreter der Gastländer Flandern und Niederlande sind der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und der flämische Ministerpräsident Jan Jambon geladen, auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ist da.
Von Moderatorin Marwa Eldessouky bekommen sie jedoch nur flache Fragen gestellt (entgegen dem Gastlandmotto „Alles außer flach“). Als Rutte von Thomas Manns „Zauberberg“ schwärmt, weiß Eldessouky anscheinend nicht, wovon er spricht („Insomniac“ oder „Zombieberg“, fragt sie nach). Sie wirkt ohnehin überfordert an diesem Abend.
Nachdem das Geschrei aufhört, darf der Bundeskanzler noch sprechen vom Lesen „als täglich praktizierte Bereitschaft, seine eigene Blase zu verlassen, sich an die Stelle des anderen zu bewegen“. Auf eine solche Bereitschaft freut man sich in den Tagen der Buchmesse.
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