Missbrauch an Schulen in Senegal: Zum Betteln gezwungen

In Senegal stehen Koran-Schulen in der Kritik. Lehrer zwingen Schü­le­r zum Betteln, es kommt zu Missbrauch. Eltern schicken ihre Kinder trotzdem hin.

Der Lehrer Abas M‘Ballo sitzt in heller traditioneller Kleidung mit einer Tafel auf dem Boden, neben ihm sitzen sechs Jungen, die ihm zuhören

Abas M'Ballo ist Gründer der Koranschule „Darou Salam“, seine Schüler leben auch bei ihm Foto: Katrin Gänsler

ST. LOUIS taz | Ein Hinterhof in St. Louis im äußersten Nordwesten des Senegal. Während an den gepflasterten Straßen im Zentrum beliebte Restaurants, hübsche Hotels und gepflegte Gärten liegen, sind die Wege im Viertel Medina sandig, die Gebäude gedrungen und nicht alle an die Wasserversorgung angeschlossen.

Sechs Jungen im Kindergarten- und Grundschulalter sitzen neben Abas M’Ballo auf geflochtenen Plastikmatten vor dessen Hauseingang. Die Älteren halten Holzbretter in den Händen und schauen zu, wie M’Ballo eine Sure aus dem Koran aufschreibt. Dafür sind die Talibé, die Koranschüler, hier. Das Ziel ihrer Eltern lautet: Sie sollen innerhalb einiger Jahre die komplette heilige Schrift des Islam auswendig lernen. M’Ballo ist Islamgelehrter – in Senegal werden diese als Marabut bezeichnet – und Gründer der Koranschule „Daara Darou Salam“ („Haus des Friedens“). Die Schüler des 44-Jährigen leben bei ihm, ihre Eltern sehen sie manchmal mehrere Jahre nicht.

Wie viele Talibé es im Land gibt, weiß niemand genau. 2018 schätzte die nichtstaatliche Organisation Global Solidarity Initiative, dass allein in der Hauptstadt Dakar 200.000 leben. Mindestens jeder Vierte wird zum Betteln gezwungen. Sichtbar ist das aber überall im Land: Jungen, die meist zwischen 6 und 16 Jahren alt sind, ziehen mit Plastik- oder Blechschüsseln durch die Straßen und betteln um etwas Essbares oder Geld. Pas­san­t:in­nen scheuchen sie wahlweise wie lästige Fliegen weg oder legen ihnen ein paar Münzen in die Schüsseln.

Laute Kritik äußern hauptsächlich nichtstaatliche Organisationen: Mit der Zwangsbettelei missbrauchen Marabuts ihre Schüler und bereichern sich an ihnen. Gefordert werden täglich mindestens umgerechnet 80 Euro-Cent. Manche Marabuts schicken täglich bis zu 50 Jungen auf die Straßen. Wer nicht genügend Geld nach Hause bringt, wird bestraft. Im Fokus steht auch die schlechte Unterbringung. Weder gibt es genügend Schlafplätze und Waschmöglichkeiten noch eine medizinische Versorgung, heißt es. Mehrfach sind Fotos von angeketteten Jungen veröffentlicht worden.

Sie bleiben und betteln

Im Juni 2016 startete die Regierung unter dem bisherigen Präsidenten Macky Sall einen erneuten Versuch, damit die Talibé die Straßen verlassen. Doch sie bleiben und betteln. Missbrauchsvorwürfe werden selten verfolgt, und erst recht kommt es nicht zu Prozessen.

Das Talibé-System ist uralt. In Dakar sagt Politikwissenschaftler Ibrahima Thiam von der linkennahen Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Einst war es so, dass ein Kind bei jemandem den Koran studiert und auch bei dieser Person gewohnt hat. Da es nicht genug Geld gab, ist es anderswo essen gegangen.“ Der entscheidende Unterschied zu heute war: „Mehrere Haushalte haben ein Kind mit Essen versorgt. Auch mein Vater war Talibé, obwohl sein Vater wohlhabend war. Das war eine Art der Ausbildung: Anderswo um Essen zu bitten, tötet das eigene Ego.“

In Senegal bekennen sich mehr als 97 Prozent der gut 18 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen zum Islam, den dort die Sufi-Bruderschaften prägen. Die größten sind die Muriden, die Tijanes sowie die Khadiriya. Ihr gesellschaftlicher Einfluss und die enge Bindung ihrer Mitglieder gilt als ein Grund, weshalb Terrorgruppen aus dem Nachbarland Mali wie auch wahhabitische Strömungen bisher wenig erfolgreich sind. Der Wunsch, dass Kinder eine religiöse Ausbildung erhalten, ist groß.

Vor allem, so möchten es viele, soll die Ausbildung in St. Louis stattfinden. Während beispielsweise Touba als heilige Stadt der Muriden gilt, haben die Gründer der bedeutenden Bruderschaften alle einige Zeit in St. Louis gelebt. Nirgendwo sonst im Land, heißt es oft, lasse sich der Koran so gut studieren wie in der Unesco-Weltkulturerbe-Stadt, die mehr als 500 Daaras zählt. Moscheen prägen das Stadtbild.

Der Lebensweg: Vorgezeichnet

Das war auch für den Marabut Abas M’Ballo ein Grund, nach St. Louis zu ziehen. Seine Kindheit hat er in der Casamance an der südlichen Grenze zu Guinea-Bissau verbracht. Sein Ziel lautete stets: „Ich möchte mindestens eine Daara in St. Louis errichten.“

Seine Schüler hat er gleich mitgebracht. Ihre Familien leben in den Städten Kolda und Ziguinchor und somit hunderte Kilometer entfernt. Eigentlich sollten sie regelmäßig Geld für Unterricht und Unterbringung schicken. „Doch sie tun es nicht. Ich zahle alles, vom Strom bis zu Medikamenten, wenn eins krank ist.“ Woher er das Geld nimmt, sagt er nicht.

M’Ballos Lebensweg war stets vorgezeichnet. Seit seiner Kindheit hat er sich ausschließlich mit dem Koran befasst und nichts anderes gelernt. Auch die offizielle Landessprache Französisch spricht er nicht. „Hätte ich einen Beruf erlernt, würden die Kinder möglicherweise heute mit mir in meiner Werkstatt stehen.“

Porträt von Ibrahima Thiam

Ibrahima Thiam: „Einst war es so, dass ein Kind bei jemandem den Koran studiert und auch bei dieser Person gewohnt hat.“ Foto: Katrin Gänsler

Dafür setzt sich das „Maison de la Gare“ ein. Das 2007 gegründete Zentrum bietet Talibé für ein paar Nächte eine Unterkunft. Sie können sich und ihre Kleidung waschen, ihre Krätze-Wunden behandeln lassen und am Französischunterricht teilnehmen. Für die Koranschüler ist das eine Auszeit aus einem stressigen Alltag. Auch werden hier Ausbildungsplätze im Handwerk vermittelt. Leiter des Zentrums ist Momar Mbaye. „Wir kämpfen dafür, dass Kinder nicht mehr zum Betteln auf die Straßen geschickt werden“, sagt er, „aber auch dafür, dass es endlich Strukturen in den Koranschulen gibt“: Weder wird kontrolliert, was die Kinder aus und über den Koran lernen, noch wie sie untergebracht und versorgt werden.

In Senegal wie in anderen westafrikanischen Ländern setzt sich allerdings zunehmend das System der franko-arabischen Schule durch. Das sind häufig Privatschulen, die aus Koranschulen entstanden sind und in denen die Fächer Französisch und Mathe hinzugekommen sind. Damit die Kinder und Jugendlichen überhaupt eine Chance auf einen Job haben. Allein in Senegal drängen jährlich rund 300.000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Der Kampf um die wenigen Jobs ist groß.

In der „Daara Darou Salam“ ist jetzt erst mal Pause. M’Ballos Frau hat auf dem Markt Fisch gekauft und kocht Mittagessen für alle. An der Tradition, den Koran auswendig zu lernen, hält M’Ballo fest. Er sei die Grundlage des Lebens. Der Idee, diese mit einer handwerklichen Ausbildung zu ergänzen, ist Abas M’Ballo aber nicht abgeneigt. „Sonst können die Jungen nur das werden, was ich bin: Marabu.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.