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Neue Entscheidung im Fall Julian AssangeJeder Tag kostet Glaubwürdigkeit

Bernd Pickert
Kommentar von Bernd Pickert

Der WikiLeaks-Gründer darf gegen seine Auslieferung Berufung einlegen. Das ist ein kleiner Erfolg, das Verfahren selbst jedoch eine große Schande.

Assange wird aus dem Gerichtssaal geführt, Archivbild aus London von 2019 Foto: Matt Dunham/dpa

D ieses Verfahren ist nur noch beschämend. Natürlich ist es erst einmal gut, dass Julian Assange in Großbritannien gegen seine Auslieferung in die USA in Berufung gehen darf. Aber ein Grund zum Feiern ist die Entscheidung aus London vom Dienstag wahrlich nicht. Assange sitzt noch immer in Haft, seit nunmehr fünf Jahren im Londoner Hochsicherheitsgefängnis, eine Freilassung ist nicht in Sicht, und eine Auslieferung ist vom Gericht zwar an bestimmte Bedingungen geknüpft, aber grundsätzlich überhaupt nicht ausgeschlossen worden.

Deshalb gehört erneut daran erinnert: Assange ist von massiver Strafe bedroht, weil er Informationen veröffentlicht hat, die andere geheim halten wollten. Das ist es, was Jour­na­lis­t*in­nen tun sollten – erst recht, wenn mit diesen Informationen massive Menschenrechtsverletzungen dokumentiert werden.

Ohne die Regelübertretung Chelsea Mannings, die den digitalen Dokumentenberg an Wikileaks überspielte – und dafür mehrere Jahre im Gefängnis saß – und die anschließende Veröffentlichung der Daten durch Wikileaks hätte niemand von den US-Verbrechen in Irak und Afghanistan erfahren.

Einer Demokratie unwürdig

Wenn Assange dafür wirklich verurteilt wird, ist investigativer Journalismus samt Quellenschutz insgesamt in Gefahr. Und genau diese Abschreckung ist wohl auch gewollt. Das aber ist mit der Pressefreiheit, die doch zu jener regelbasierten Weltordnung gehört, die der Westen zu verteidigen vorgibt, nicht zu vereinbaren.

Ja, Assange mag verschrobene politische Ansichten und eigene Ambitionen gehegt haben, auch, als er 2016 von Russland gehackte Daten aus Hillary Clintons Wahlkampf veröffentlichte und so zu Donald Trumps Wahlsieg zumindest mit beitrug. Man kann auch Assanges früheres Auftreten arrogant, selbstgerecht und machohaft finden. Aber das ändert nichts daran, dass dieses quälende Auslieferungsverfahren in demokratischen Gesellschaften keinerlei Platz haben sollte.

Biden hält die Fäden in der Hand

US-Präsident Joe Biden könnte die Verfolgung Assanges mit einem Federstrich einstellen, so wie einst Barack Obama eine Begnadigung für Chelsea Manning aussprach. Es wäre eine humanitäre Geste einerseits und ein Signal politischer Klugheit andererseits. Denn jeder Tag, den der schwer kranke Assange weiter im Gefängnis sitzt, kostet den Westen Glaubwürdigkeit.

Der Vergleich zwischen Assange und dem gerade in russischer Haft gestorbenen Alexei Nawalny mag hinken – aber tatsächlich sind beide Männer Opfer von Regierungen, die an ihnen abschreckende Exempel statuieren wollen. Will der Westen wirklich besser sein, muss Assange unverzüglich freikommen.

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Bernd Pickert
Auslandsredakteur
Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org
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15 Kommentare

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  • Ich kann mich nicht mit der Situation abfinden. Allein die Audio-Video-Sequenz "A good shot", man sieht nur unbeteiligte Zivilisten, reicht aus, um Julian Assange, wenn es sein muss mit irregulären Miteln, aus den Fängen einer durch und durch korrupten US-Verurteilungs-Maschinerie (die Gefängnisbetreiber brauchen Insassen) zu befreien.



    Belehrt mich. Aber so weit ich weiß, werden die final entscheidenden Ämter durch eine Wahl besetzt.



    Möglich wäre also auch ein Äquivalent von unserem geliebten Nazi Führer B.H. Ar...

  • Vielleicht muss Assange rechtstaatlich angeklagt, vielleicht auch verurteilt und bestraft werden. Allerdings sind die drohenden Strafen reiner Irrsinn und müssen vom Tisch. Obwohl selbstgewählte Freiheitsentziehung (Aufenthalt in der Botschaft), sollte damit jeglicher Strafanspruch abgegolten sein. Basta!

  • «Der Vergleich zwischen Assange und dem gerade in russischer Haft gestorbenen Alexei Nawalny mag hinken – aber tatsächlich sind beide Männer Opfer von Regierungen, die an ihnen abschreckende Exempel statuieren wollen.»



    „Ich weiß, dass der Vergleich hinkt, aber ich mache ihn trotzdem“. Aua.

    • @Barbara Falk:

      Der Vergleich hinkt überhaupt nicht. Auch bei Herrn Assange wird die "Hochsicherheitstrakt-Isolationshaft" zum Tode führen. Einer ist eben härter und stirbt später.



      Es gibt überhaupt keinen Grund, das Eine mit mit dem Anderen abzuwägen.



      Es sei: der russische Folterer ist viel, viel böser als der britische(westliche). Aber man lernt ja von einander.

  • Ich finde, da die USA die erbeten Garantien offenbar als Demütigung empfinden und verweigern, sollte er nun schnell in Großbritannien verurteilt werden. Weil er schon 5 Jahre in Haft sitzt, dürfte recht wenig an Strafe übrigbleiben.

  • In diesem Fall ist die Glaubwürdigkeit des Westens längstens auf dem Nullpunkt angelangt, noch weiter kann sie auch mit einer Haftverlängerug gar nicht mehr sinken.



    eine Gelegenheit, wieder einmal auf das Buch von Nils Melzer: «Der Fall Julian Assange» hinzuweisen, worin der seinerzeitige UNO-Sonderberichterstatter für Folter unter anderem auch die himmeltraurige Rolle, die Schweden und Grossbritannien in diesem abgekarteten Spiel spielen, ausführlich beschreibt.

  • "Das aber ist mit der Pressefreiheit, die doch zu jener regelbasierten Weltordnung gehört, die der Westen zu verteidigen vorgibt, nicht zu vereinbaren."



    Mit den Regeln einer Plutokratie ist das gut kompatibel. Neoliberalismus und Pressefreiheit sind keine Geschwister, die regelbasierte Weltordnung wird auch von Wölfen im Schafspelz instrumentalisiert, wenn es um Interessen geht. Wenn man die Geldflüsse verfolgen will, kommt man mühsamer zu den Quellen als zum unüberschaubaren Ozean. Vielleicht gibt es bei Informationen systematisch eine analoge Drift.

  • Für den letzten Absatz ein besonderes Dankeschön.

    Solange der Westen, und insbesondere D, sich so den "Werte " der USA anschliesst, gibt es wohl keine Hoffnumg.

    Deshalb ist jede moralische Überheblichkeit einfach nur zim kotzen. Es gibt keinen anderen Ausdruck dafür.

  • also: wenn ich nicht ganz depperd bin, hat Assange nur das veröffentlicht, was andere aufgezeichnet und eben NICHT den Verantwortlichen vermittelt haben. Oder doch? Und denen war es einfach scheiß egal?



    Frau Baerbock: Sie werden mit einer Intervention für Herrn Asange die Geschicke der Welt weder positiv noch negativ beeinflussen.



    Aber die Gewissheit, einmal eine zutiefst moralische Haltung gezeigt zu haben.

  • Könnte ihnen nicht mehr zustimmen. Ich hatte ja ein wenig Hoffnung geschöpft, nachdem die australische Regierung in einer Abstimmung für die Rückkehr von Assange nach Australien gestimmt hatte. Ich finde es persönlich auch unzumutbar, das sich das ganze Verfahren jetzt schon über Jahre hinzieht und sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert hat.