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Brisanter Bericht in GroßbritannienGeheimdienst duldete Morde

Ein kürzlich veröffentlichter Bericht weist nach, dass eine Spionageeinheit der Armee Morde zugelassen hat, um die Identität seines Agenten „Stakeknife“ zu schützen.

Freddie Scappaticci 1987

DUBLIN taz | Sie nennen seinen Namen noch immer nicht: Freddie Scappaticci war Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und gleichzeitig Agent der britischen Armee mit Decknamen „Stakeknife“. Am Freitag wurde in einem Belfaster Hotel der Zwischenbericht einer unabhängigen Untersuchung unter Leitung von Jon Boutcher, dem Polizeichef von Nordirland, über Stakeknifes Aktivitäten veröffentlicht – sieben Jahre nach Einsetzung der Kommission.

Scappaticci wird in dem 200 Seiten dicken Bericht nicht namentlich erwähnt. Boutcher monierte, es sei „ein fast zwanghaftes Bestreben von Polizei und Geheimdiensten“, die Identität von Informanten oder Agenten, einschließlich Stakeknife, „weder zu bestätigen noch zu leugnen“.

Die „Force Research Unit“ (FRU), eine undurchsichtige britische Spionageeinheit der Armee, die niemandem rechenschaftspflichtig ist, habe Informationen über Entführungen und Morde zurückgehalten, um ihren Agenten zu schützen, heißt es in seinem Bericht. So wurden „sehr schwere Straftaten, einschließlich Mord, nicht verhindert oder untersucht, obwohl sie hätten verhindert werden können und müssen“. Boutcher listete zahlreiche Morde auf, bei denen die Sicherheitskräfte über Vorabinformationen verfügten, aber nicht eingriffen, um ihre Quelle zu schützen.

Die Behauptung, dass Scappaticcis Tätigkeit Leben gerettet habe, bezeichnet Boutcher als Märchen: Diese Behauptungen des britischen Geheimdienstes beruhen auf „unzuverlässigen und spekulativen internen Statistiken“. Stakeknifes Aktivitäten während des Konflikts in Nordirland haben mehr Menschenleben gekostet als gerettet, schreibt Boutcher.

Scappaticci kam 1946 in Belfast zur Welt. Seine Eltern waren in den zwanziger Jahren auf Jobsuche aus Italien nach Nordirland eingewandert. Scappaticci wurde Maurer, nahm an Straßenschlachten im Zuge der Bürgerrechtsdemonstrationen teil und wurde 1971 ohne Anklage interniert. Im Gefangenenlager Long Kesh bei Belfast lernte er Gerry Adams kennen, der später Präsident von Sinn Féin wurde.

Zum Agenten wurde er aus Rache. 1978 wurde er nach einem Streit mit einem hochrangigen IRA-Mann brutal zusammengeschlagen. Scappaticci ging schnurstracks zur nächsten Kaserne und bot der britischen Armee seine Dienste an. Die versorgte ihn mit Informationen, die seiner Beförderung innerhalb der IRA dienlich waren, sodass er Anfang der Achtzigerjahre an die Spitze des Sicherheitsdienstes aufstieg. Er kümmerte sich um IRA-Mitglieder, die als Spitzel verdächtigt wurden, er verhörte sie und brachte sie in vielen Fällen danach um. Auf sein Konto sollen mindestens 18 Morde gehen. Die meisten seiner Opfer waren ebenfalls britische Agenten in der IRA.

2003 wurde er enttarnt und tauchte mithilfe des Geheimdiensts im Ausland unter. Vor einem Jahr ist er in England im Alter von 77 Jahren friedlich in seinem Bett gestorben. Das war nur wenigen Spitzeln vergönnt. Dafür hatte Scappaticci gesorgt.

Boutcher empfiehlt in seinem Bericht unter anderem eine Überprüfung und Reform des Justizsystems in Nordirland, einschließlich einer Aufstockung der Mittel für die Staatsanwaltschaft, um die Bearbeitung von Altfällen zu beschleunigen. Das wird die britische Regierung nicht zulassen: Sie hat vorigen September den „Northern Ireland Legacy Act“ verabschiedet, um neue Ermittlungen zu Morden im Zusammenhang mit dem Konflikt zu verhindern und die Namen von Agenten für immer zu verbergen.

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