Regisseur Koreeda über Kindheit: „Die geheime Welt ist verschwunden“
Hirokazu Koreeda erzählt im Film „Die Unschuld“ von der Freundschaft zweier Jungen in Japan. Es geht ums Anderssein und um Gruppenzwang.
Nach zwei filmischen Ausflügen in die Ferne, „La Verité“ spielte in Paris, „Broker“ in Südkorea, kehrt der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda mit „Die Unschuld“ in seine Heimat zurück. Aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt der 61-Jährige darin von den Mysterien einer Kindheit, dysfunktionalen Familienbanden und sozialen Konventionen. Im Zentrum stehen zwei Jungs, deren Verhalten und intime Freundschaft für Verwirrungen sorgen. Die Geschichte stammt ausnahmsweise nicht von Koreeda selbst, sondern von Yūji Sakamoto, der dafür in Cannes den Drehbuchpreis erhielt.
taz: Herr Koreeda, „Die Unschuld“ ist der erste Spielfilm seit Ihrem Debüt „Maboroshi – Das Licht der Illusion“ von 1995, zum dem Sie nicht selbst das Drehbuch geschrieben haben. Wie kam es dazu?
Hirokazu Koreeda: Yūji Sakamotos Arbeit beobachte ich seit fünfzehn Jahren aus der Ferne. Wir beschäftigen uns beide mit der Art und Weise, wie Familie Menschen gefangen hält, vor allem Kinder, weil sie am verletzlichsten sind, und anderseits mit Wahlfamilien, die sich außerhalb der Blutsbande bilden. Als Yūji für die Verfilmung seines Drehbuchs meinen Namen als Regisseur nannte, sagte ich zu, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben.
Hirokazu Koreeda Der Regisseur Hirokazu Koreeda wurde 1962 in Kiyose geboren. Er studierte Literatur und arbeitete anschließend als Dokumentarfilmer für die unabhängige TV-Produktionsfirma TV Man Union. Sein erster Spielfilm, „Maboroshi – Das Licht der Illusion“, wurde 1995 in Venedig prämiert, großen Erfolg hatte er mit „After Life“ (1998). Für „Shoplifters“ erhielt er 2018 in Cannes die Goldene Palme.
Im Zentrum steht die Freundschaft zweier 11-jähriger Jungen, die intim und zärtlich ist, ohne klar als schwule Liebesgeschichte benannt zu werden. Wie haben Sie sich diesem sensiblen Thema genähert?
Unter anderem habe ich mit einer Organisation gesprochen, die sich für LGBTQ+-Kinder einsetzt, um zu verstehen, inwieweit sich ein Junge in dem Alter seiner eigenen Sexualität bewusst ist. Würde er sich selbst bereits etwa als schwul oder queer bezeichnen? Minato und Yori leben ihre aufkeimende Zuneigung in völliger Unschuld. Es ist die Gesellschaft, die sie zwingt, sich zu hinterfragen.
Minato glaubt, seine Zuneigung könnte etwas Falsches sein, weil seine Mutter sich wünscht, dass er ein würdiger Sohn für seinen verstorbenen Vater ist. Auch die Lehrerin ermutigt ihn, gängigen Vorstellungen von Männlichkeit zu entsprechen. Die Erwachsenen geben ihm das Gefühl, mit seinen Gefühlen für Yori nicht „normal“ zu sein.
Wie ihm geht es vielen Kindern in Japan. Weil es immer noch Menschen gibt, die glauben, dass Anderssein korrigiert werden muss. Es steht nicht so sehr die sexuelle Orientierung im Vordergrund, sondern vielmehr die damit verbundenen Vorurteile.
Inwieweit verändert sich die Arbeit mit einem fremden Drehbuch?
Zwischen dem Lesen und dem Filmdreh sind etliche Jahre vergangen, auch wegen des Lockdowns. In der Zeit arbeiteten wir gemeinsam weiter am Drehbuch, ich machte es mir Schritt für Schritt zu eigen. Für die Struktur der verschiedenen Perspektiven habe ich mich dabei stark an Akira Kurosawas „Rashomon“ orientiert. Und ich las Bücher über seine Art zu schreiben und mit anderen Drehbuchautoren zusammenzuarbeiten, auch daraus habe ich viel gelernt.
„Die Unschuld“. Regie: Hirokazu Koreeda. Mit Ando Sakura, Tanaka Yuko u.a. Japan 2023,
126 Min.
Wichtig war dann, den Ort zu finden, an dem die Geschichte spielen sollte. Wir entschieden uns für Nagano, eine Stadt in einer Bergregion auf der Insel Honshû. Erst wenn ich die Orte kenne, kann ich wirklich präzise werden, auch wenn die Erzählstruktur vertrackt wirkt. Bei den Dreharbeiten selbst habe ich dann weniger gehadert als bei früheren Filmen, es herrschte größere Klarheit.
In Deutschland kommt Ihr Film nun unter dem Titel „Die Unschuld“ ins Kino, der internationale Titel Ihres Films lautet aber „Monster“.
Wenn man vom Japanischen ins Englische wechselt, verschiebt sich bereits die Bedeutung. „Monster“ erinnert an eine Kreatur mit sehr definierten Formen. Der japanische Titel, „Kaibutsu“, bezieht sich auf etwas Ungeheuerliches, das sich der Vernunft entzieht, es ist eher eine negative Kraft als ein greifbares Monster. Für die Mutter der Familie ist das Monster die Schule. Für die Schule ist es die Mutter. Für den Jungen, dem seine Andersartigkeit zur Last gelegt wird, ist das Monster in seinem Inneren.
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Sie selbst wuchsen in einfachen Verhältnissen auf, die japanische Gesellschaft war in den 1960er Jahren noch deutlich traditioneller. Wie unterscheidet sich eine Kindheit heute von Ihrer damals?
Ich glaube, was es schon immer gab, ist dieser Gruppenzwang, wie alle anderen sein zu müssen. Es prägt das Leben der Erwachsenen und ist längst auch in den Alltag der Kinder eingesickert. Das hat sich seit damals nicht groß geändert. Heute gibt es nur sehr viel weniger Kinder. Und deren Leben ist deutlich unfreier, weil sie unter ständiger Beobachtung ihrer besorgten Eltern stehen.
Diese geheime Welt, die für Erwachsene unsichtbar oder nicht zugänglich war, ist verschwunden. Früher war es bei drei Kindern in einer Familie nicht so schlimm, wenn eines von ihnen ein bisschen seltsam war. Aber jetzt haben japanische Paare meist nur noch ein Kind, wenn überhaupt. Und dieses Einzelkind ist dann das alleinige Ziel der Erwartungen und der Aufsicht der Eltern.
Die Jungs spielen in einen verlassenen Eisenbahnwagen, den sie zum Geheimversteck ausbauen. Heute würde man es wohl Safe Space nennen. Hatten Sie so etwas als Kind?
Das hatte ich tatsächlich. Neben unserem Haus waren Felder, in denen die Kinder der Nachbarschaft rumrennen konnten. Aber dann wurde das Gelände zubetoniert und zum Schrottplatz gemacht. Dort standen und lagen bald Dutzende Autowracks herum. Meine Familie besaß keinen Wagen, dazu fehlte das Geld.
Als Junge suchte ich mir ein Auto auf dem Schrottplatz aus, dessen Türen nicht verschlossen waren. Im Inneren fand ich alle möglichen Sachen, im Handschuhfach etwa, die der Besitzer zurückgelassen hatte. Ich konnte Stunden dort verbringen.
Nach und nach brachte ich dann meine eigenen Schätze von zu Hause dorthin, meine Teddybären und anderes Spielzeug, das mir viel bedeutete, und machte aus der Schrottkarre meine kleine Burg. Deswegen erinnerten mich die beiden Jungs, die das alte Zugabteil dekorieren, sehr an mein eigenes Aufwachsen.
Sie haben in Ihren Filmen immer wieder Kinder und Jugendliche besetzt. Inwieweit war die Arbeit diesmal anders?
Üblicherweise gebe ich den Kinderdarstellern kein Drehbuch. Ich gebe ihnen den Dialog erst am Set. Normalerweise schreibe ich das Drehbuch nämlich so, dass es zu dem Kinderdarsteller passt. Ich gehe auf ihre Persönlichkeit und ihr Temperament ein, sodass die Figuren, die sie spielen, am Ende ziemlich nah an ihnen dran sind.
In diesem Fall gibt es aber ein Maß an innerem Konflikt und psychologischem Druck, dass ich das nicht tun konnte. Also sprach ich mit ihnen alles durch und wir haben ihre Figuren zusammen erschaffen. Am Set war die Atmosphäre jedoch wie sonst auch. Ich habe versucht, es so zu gestalten, dass sie Spaß am Schauspielen haben und sich darauf freuen, am nächsten Tag wiederzukommen.
Sie haben Ihren Film dem Komponisten Ryūichi Sakamoto gewidmet, der am 28. März vor einem Jahr einem Krebsleiden erlag. Der Soundtrack zu „Die Unschuld“ ist nun sein Abschiedswerk geworden.
Hätte er die Arbeit nicht mehr vollenden können, hätte ich gar keine Musik verwendet, sondern nur die Geräusche, die wir während der Dreharbeiten einfangen konnten: den Wind, den Fluss, den Regen. Die Kraft von Ryūichis Kompositionen ist für den Film unersetzlich.
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