Filmfestival Cannes 2023: Monster in der Familie

Hirokazu Koreeda zeigt rätselhafte Schüler, Catherine Corsini sucht nach Identitäten, und Steve McQueen blickt auf das von Nazis besetzte Amsterdam.

Familienfoto der drei Protagonistinnen von "Le Retour"

Szene aus „Le Retour“ von Catherine Corsini Foto: Festival de Cannes

Vier Stunden für einen Film sind eine lange Zeit. Der britische Regisseur und Videokünstler Steve McQueen hat sie sich genommen für seine jüngste Arbeit, „Occupied City“ die er bei den Filmfestspielen in Cannes außer Konkurrenz präsentierte. Um dem Premierenpublikum die Angst zu nehmen, wies er ausdrücklich auf die Pause in der Mitte hin und zählte auf, wo die nächstgelegenen Toiletten zu finden seien.

Ungeachtet der launigen Ansage ist „Occupied City“ eine ernste Arbeit. McQueen, der mit Spielfilmen wie „12 ­Years a Slave“ und „Widows“ unterschiedliche Genres erkundete, hat sich für seinen aktuellen Dokumentarfilm der Geschichte Amsterdams unter der Besatzung durch die Nazis angenommen.

„Occupied City“ zeigt Bilder des heutigen Amsterdam, während eine Stimme aus dem Off die einzelnen Orte oder Gebäude beschreibt und von den Schicksalen ihrer jüdischen Bewohner berichtet. Der Text beruht auf dem Buch „Atlas of an Occupied City, Amsterdam 1940–1945“ der niederländischen Regisseurin Bianca Stitger, der Frau McQueens. Beide leben in Amsterdam.

Bilder und Worte laufen parallel

McQueen lässt die Bilder und Worte parallel-, mitunter gar auseinanderlaufen. Während der ersten Phase des Pandemielockdowns begonnen, filmt er Menschen in ihren Wohnungen bei Zoomkonferenzen, ebenso wie Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen. Eine Parallele zur Kriegsvergangenheit ist zumindest, dass es in den Niederlanden bis zur Pandemie keine Ausgangssperren mehr gegeben hatte.

Bild und Text konkurrieren oft miteinander, besonders wenn man deutlich hört, was die gefilmten Personen sprechen. Die Aufmerksamkeit droht dann, von der Bewegung der Bilder geleitet, vom Text wegzudriften. So als müsste diese „darunterliegende“ Ebene des Geschichtlichen, etwa dass die Niederlande der Staat mit den meisten jüdischen Opfern in Westeuropa sind, sich dagegen wehren, von der Gegenwart verdrängt zu werden. Vier Stunden für einen Film sind eine lange Zeit. Sie werden einem allerdings nicht lang.

Wie lang einem Catherine Corsinis Wettbewerbsbeitrag „Le retour“ wird, ist eine andere Frage. Der Film, der vorab von einem Skandal um Übergriffe beim Dreh begleitet und vorübergehend wieder ausgeladen war, erzählt von einer Mutter und ihren Töchtern, die nach 15 Jahren in Marseille nach Korsika zurückkehren. Die Mutter, Khedidja, hatte ihre Töchter dort zur Welt gebracht, die Insel nach einigen Jahren aber fluchtartig verlassen. Jetzt versuchen sie, sich dort wieder heimisch zu fühlen.

Verschiedene Identitäten

„Le retour“ verhandelt eine Reihe von Identitäten: die der Zugehörigkeit, da sich die schwarze Familie dem Rassismus der Korsen stellen muss, die der Sexualität, da Jessica, die ältere Tochter, sich in eine ungefähr gleichaltrige Frau verliebt, und die des Familienzusammenhalts, da die Rückkehr nach Korsika unerledigte Angelegenheiten Khedidjas wieder an den Tag bringt. Das ist dank der drei Protagonistinnen bewegend erzählt. Corsini hat sich andererseits sehr viele Fragen gleichzeitig vorgenommen, was der Geschichte etwas gewaltsam Konstruiertes verleiht.

Im Wettbewerb gab es mit „Monster“ von Hirokazu Ko­re­eda dafür schon einen bemerkenswerten Beitrag. Ein Schüler, Minato, beginnt sich zu Hause sonderbar zu verhalten. Die besorgte Mutter erfährt von ihm, sein Lehrer habe ihn geschlagen und ihm beleidigende Dinge gesagt. Bei einem Besuch in der Schule wirken die Lehrer wie ferngesteuerte Roboter, nicht wie echte Menschen. Doch auch Minatos Mitschüler Yori wirkt recht sonderbar.

Anders als bei ihm üblich, spaltet Koreeda die Handlung in die Perspektiven verschiedener Protagonisten auf. Das Geschehen klärt sich nach und nach, einige Rätsel werden aufgelöst, andere bleiben. Auffällig ist zudem die Dramatik, mit der „Monster“ inszeniert ist. So geht gleich zu Beginn des Films ein Hochhaus in Flammen auf. Ko­re­eda kontrastiert solche Szenen jedoch wunderbar mit sentimental-verträumter Musik, die von keinem anderen als Ryūichi Sakamoto stammt. Es ist der letzte Soundtrack des im März verstorbenen Musikers.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.