Verschärfte Flüchtlingspolitik: Kostenexplosion durch Bezahlkarte
Berlin will die Bezahlkarte für Asylbewerber angeblich nur zum Bürokratieabbau. Doch dafür ist sie etwas sehr teuer, wie eine Grünen-Anfrage ergibt.
Aktuell bekommen den Antworten von Integrationsstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD) zufolge rund 23.000 Asylbewerber in Berlin „Leistungen für den notwendigen persönlichen Bedarf“. Das ist das „Taschengeld“, das zusätzlich zum „notwendigen Bedarf“, also Miete, Heizung, Essen, Kleidung, gezahlt wird – in Berlin wie in den meisten Ländern und Kommunen noch als Bargeld oder Überweisung auf ein Konto.
Die im November von den Ministerpräsidenten vereinbarte Bezahlkarte war zuerst als Entlastung der Kommunen ins Spiel gebracht worden. Einige Bundesländer wie Bayern machten daraus dann ein angeblich probates Mittel, Migration zu begrenzen, indem Deutschland „unattraktiver“ gemacht wird. Dafür soll mit der Bezahlkarte der Bargeldanteil für Asylbewerber gesenkt werden, einen Teil ihres „Taschengelds“ sollen sie nur als Sachleistung erhalten. Zudem soll die Bezahlkarte verhindern, dass Asylbewerber Geld in ihre Heimat überweisen.
Kommunen dürfen selber entscheiden
In Berlin gab es im vorigen Jahr 42 Angriffe auf Flüchtlinge, deutlich mehr als in den Jahren zuvor (2022: 27, 2021: 31). Dabei wurden 49 Menschen geschädigt, 22 sogar verletzt. Die Polizei bestätigte am Montag gegenüber der taz diese Zahlen aus einem Artikel im Tagesspiegel. Grundlage seien Fallzahlen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität. Daher beruhe die Erfassung der Taten, hier: gegen Flüchtlinge gerichtet, „auf der Zuordnung der Motivation des Täters“. Ob die Opfer tatsächlich Flüchtlinge sind, spielt hier also keine Rolle.
Bundesweit hat sich die Zahl der Übergriffe gegen Flüchtlinge im selben Zeitraum sogar fast verdoppelt von 1.248 auf 2.378. (sum)
Vergangene Woche entschied die Ministerpräsidentenkonferenz, dafür das Asylbewerberleistungsgesetz zu ändern. Die Änderung solle klarstellen, so Jian Omar, dass Kommunen selbst entscheiden können, ob sie eine Bezahlkarte mit Einschränkungen, eine ohne Einschränkungen oder weiter Bargeldzahlung wollen.
Der Senat hat wiederholt erklärt, dass er keine Beschränkung der Karte will, mit ihr auch keine Migrationssteuerung bezwecke, was laut Experten ohnehin unmöglich ist. „Wir wollen vereinfachen, wir wollen dadurch auch Bürokratie herunterfahren. Das ist das Ziel der Bezahlkarte“, erklärte CDU-Senatschef Kai Wegner Ende Februar.
Wenn es aber nur darum gehe, sagt Omar, sei es unverständlich, „warum der Regierende Bürgermeister eine Gesetzesänderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und eine einheitliche Bezahlkarte mit anderen Bundesländern fordert“. Eine nicht diskriminierende Bezahlkarte, die wie eine EC-Karte funktioniert, sei schon jetzt möglich, betonte Omar – die Stadt Hannover mache es vor. Wenn es dem Senat darum gehe, solle Berlin diesem Beispiel folgen, das „voraussichtlich kostengünstiger sein und die Verwaltung entlasten wird“.
Dagegen wird mit der Bezahlkarte das angebliche Ziel „Bürokratieabbau“ offenkundig teuer erkauft. So bekommen 16.200 Menschen in Berlin ihr „Taschengeld“ – zwischen 132 Euro für Kinder bis zu 204 Euro für alleinstehende Erwachsene – als Bargeldauszahlung, 7.000 Menschen auf ein Konto. Die Zahlstelle des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten für die Bargeldauszahlungen kostet das Land inklusive Personalausgaben jährlich 366.000 Euro.
10 Millionen Euro jährlich
Zu den prognostizierten Kosten der Bezahlkarte für Berlin steht in den Antworten des Senats keine konkrete Zahl. Sie würden „maßgeblich von der Beschaffenheit des im Rahmen des bundesweiten Vergabeverfahrens ausgewählten Angebots abhängen“. Allerdings geistert seit Monaten die Zahl von 10 Millionen Euro jährlich durch den politischen Raum. Eine Summe, die, so Omar, von einer Bundesarbeitsgruppe stamme, Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) habe sie im entsprechenden Fachausschuss bestätigt.
Auch der Flüchtlingsrat kritisiert die Karte weiterhin. Kostengünstiger und unbürokratischer wäre es, allen Geflüchteten die Einrichtung eines Basiskontos zu ermöglichen, sagt Sina Stach vom Flüchtlingsrat. „In puncto Verwaltungseffizienz macht ein Basiskonto auch insofern mehr Sinn, als es die Inhaber*innen auch nach dem Wechsel der Leistungsstelle, etwa zum Jobcenter, weiter nutzen können.“
P.S. In der ursprünglichen Version hatte gestanden, dass die Kosten der Bezahlkarte mit 10 Millionen Euro pro Jahr sogar höher wären, als Asylbewerbern in Berlin tatsächlich ausgezahlt würde. Das ist falsch: Bei 16.300 Bargeldauszahlungen von 132 bis 204 Euro bekommen alle Berliner Asylbewerber im Monat maximal 3,3 Millionen Euro – das wären pro Jahr knapp 40 Millionen Euro. Richtig ist, dass die Bezahlkarte weit teurer wäre als das bisherige System.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Bestürzung und erste Details über den Tatverdächtigen
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen