Berlinale-Film „Les gens d’à côté“: Meister der leiseren Töne
In André Téchinés Film „Les gens d’à côté“ geht Isabelle Huppert als Polizistin auf Tuchfühlung mit Autonomen.
Die Inneneinrichtung von Wohnungen lässt häufig auf den sozialen Status, aber nicht immer auf den Beruf ihrer Bewohner schließen. So kann man an den Möbeln, den vielen Pflanzen in den Räumlichkeiten von Lucies Vorstadthaus oder auch am Piano im Wohnzimmer nicht erkennen, dass hier eine Polizistin wohnt. Auf diesen Gedanken kommen Lucies neue Nachbarn, ein freundliches Paar mit Kind, auch nicht, wenn sie die nicht mehr junge Ordnungshüterin in ihrem Heim besuchen.
Lucie (Isabelle Huppert) kümmert sich häufig um die Tochter von Yann (Nahuel Pérez Biscayart) und Julia (Hafsia Herzi), danach essen sie zusammen im Haus der Kleinfamilie. Die Forensikerin lebt allein, seit ihr Partner Slimane – auch er war Polizist – sich das Leben genommen hat.
Irgendwann findet Lucie heraus, dass Yann das Département nicht verlassen darf, also juristisch etwas gegen ihn vorliegt. Sie stellt Nachforschungen an und entdeckt, dass ihr Nachbar mehrfach vorbestraft ist. Yann selbst, der offiziell als Künstler arbeitet, erzählt ihr allerdings offen, dass er als Autonomer regelmäßig im Schwarzen Block demonstriert.
Zunächst rückt Lucie ihrerseits nur mit der Halbwahrheit heraus, dass sie Beamtin sei. Doch ewig lässt sich ihr Beruf nicht verbergen, zumal Yann bald wieder Ärger mit der Polizei bekommt. Wie soll sich Lucie verhalten? Folgt sie ihrem Arbeitsethos und denunziert den jungen Nachbarn oder lässt sie ihr Handeln von ihrer Sympathie für ihn bestimmen?
25. 2., 16 Uhr, Cubix 5
„Bullenschweine“ und „Randalierer“
Die Grundkonstellation in dem neuen Spielfilm von André Téchiné, der im Panorama Premiere feiert, birgt durchaus Konfliktpotenzial. Man könnte daraus ein großes Drama mit allen erdenklichen Eskalationen machen.
Doch Téchiné war schon immer ein Meister der leiseren Töne. Denn hinter denen, die radikale Linke „Bullenschweine“ oder aber Konservative „Randalierer“ nennen, verbergen sich Menschen mit einer Lebens- und Leidensgeschichte. Das mag eine banale Erkenntnis sein, aber in Zeiten sich radikalisierender Meinungen und immer tieferer ideologischer Gräben in der Gesellschaft optiert Téchiné für das (Zwischen-)Menschliche und Fragen der Moral.
Er zeichnet seine Figuren nicht eindimensional: So trägt die Polizistin ein riesiges Tattoo auf der Schulter oder raucht mit Yann gern einen Joint. Auch der Idealist Yann kann seine militanten Aktionen durchaus reflektieren, ist nicht hasserfüllt und politisch nicht auf einer Linie mit seiner moderateren Lebensgefährtin. Durch die Interaktion von Lucie und Yann lässt Téchiné Spannungsmomente entstehen, die in eine ziemlich realistische Auflösung münden.
Die differenzierte Betrachtung zweier Protagonisten, die das Gesetz zumindest auf dem Papier trennt, gelingt auch durch das intensive, aber nuancierte Spiel von Isabelle Huppert und Nahuel Pérez Biscayart. Nebenbei schaut der Film Polizist*innen bei ihrer Arbeit über die Schulter, dokumentiert die Auswertung von Videoüberwachungen oder die Aufnahme von Verhafteten. Einer dieser polizeilichen Standardvorgänge wird sich im Laufe des Films wiederholen, doch dann ist er gegen jemanden gerichtet, den man als Publikum bereits gut kennengelernt hat.
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