Manuele Fior über seine Comic-Motive: „Ein ziemlich nomadisches Leben“

Jede neue Graphic Novel biete eine Chance, etwas zu lernen, sagt Manuele Fior. Ein Gespräch über die Motive des Erfindens von Geschichten.

Ausschnitt aus einer Graphic Novel.

Ausschnitt aus der Graphic Novel „Celestia“ von Manuele Fior Foto: Avant Verlag

Der 1975 in Norditalien geborene preisgekrönte Comiczeichner Manuele Fior (unter anderem bekam er den Hauptpreis für das „Beste Album“ beim Internationalen Comicfestival in Angoulême 2011) war kürzlich im italienischen Kulturinstitut in Berlin zu Besuch und hat seine neueste Graphic Novel „Hypericum“ vorgestellt.

geboren in 1975 im italienischen Cesena. Architekturstudium in Venedig. Lebte in Berlin und Oslo, bevor er mit Familie wieder nach Venedig zog. Die Graphic Novels und Comics von Manuele Fior erscheinen im Berliner Avant Verlag, zuletzt kam 2023 „Hypericum“ heraus.

taz: Lieber Manuele Fior, Sie sind ein international bekannter Graphic-Novel-Künstler. Ihre Comiczeichner-Karriere hat in Berlin begonnen, richtig?

Manuele Fior: Zu Beginn der 2000er Jahre habe ich ein paar Jahre in Berlin als Architekt gearbeitet und zufällig Hannes [Johann Ulrich] vom noch jungen Avant Verlag kennengelernt. Da er sah, dass ich auch Illustrationen machte, lud er mich spontan ein, in der Anthologie Plaque zu veröffentlichen, für die ich eine Kurzgeschichte zeichnete. Das ermutigte mich, meine erste Graphic Novel, „Menschen am Sonntag“, zu beginnen, die 2003 zeitgleich auf Deutsch und Französisch erschien.

„Menschen am Sonntag“ spielt in Berlin-Friedrichshain und trägt den Titel eines berühmten deutschen Films von 1930. Wie blicken Sie heute darauf?

Es war mein erster Schritt in die Welt der Graphic Novel und zeigt noch all die Schwächen eines Debüts. Aber es war für mich wichtig, um das Eis zu brechen. Damals war ich Architekt und es fungierte für mich als Statement, vor allem an mich selbst: Nun bin ich dort, was ich am meisten liebe, beim Geschichtenzeichnen.

Ausschnitt aus einer Graphic Novel.

Ausschnitt aus der Graphic Novel „Füntausend Kilometer in der Sekunde““ von Manuele Fior Foto: Avant Verlag

Ihre Werke sind thematisch und stilistisch sehr vielfältig. In „d’ Orsay-Variationen“ tauchen Sie zum Beispiel tief in die Welt einiger klassischer Gemälde ein …

Ich wollte schon immer Spaß bei der Zeichenarbeit haben und war nie daran interessiert, einen erkennbaren „Stil“ zu haben. Jedes Buch bietet die Chance, etwas von jemandem zu lernen, das ist meine Denkweise. Jede Technik benötigt auch viel Zeit und Energie, um richtig ausprobiert zu werden. Nichtsdestotrotz habe ich den Eindruck, meine Handschrift allmählich ausgeformt zu haben.

Ihre Zeichnungen sind sehr fein ausgearbeitet und sehen „handmade“ aus. Zeichnen Sie komplett analog?

Gewöhnlich arbeite ich ganz traditionell mit Gouache, Tusche, Wasserfarbe oder Acrylfarben.

In „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“ beschreiben Sie eine Liebes-Dreiecksgeschichte, und auch in der neuesten Graphic Novel „Hypericum“ steht die Liebe junger Menschen im Zentrum – was fasziniert so an Liebesgeschichten?

Das kommt eher spontan aus mir raus und so zeichne ich auch gerne. Liebe ist ein komplexes Thema und wurde in den Comics, die ich gelesen habe, meist sehr oberflächlich behandelt. Es klingt vielleicht anmaßend, aber ich glaube, ich bin ganz gut im Erzählen von Liebesgeschichten. Ich mag Autoren, die die Liebe wahrhaftig darstellen, wie etwa die Filmregisseure François Truffaut, Krzysz­tof Kieślowski oder der Schriftsteller Alberto Moravia. Ich habe versucht, von ihnen zu lernen, auch wenn sie in anderen Medien arbeiten.

Ein wiederkehrendes Genre in Ihren Graphic Novels ist die Science Fiction. In „Die Übertragung“ gelingt Ihnen eine sehr unkonventionelle SF-Geschichte über Telepathie. „Celestia“ handelt von verschwundenen oder nicht realisierten Architekturen in Venedig und spielt in einer dystopischen nahen Zukunft. Wie sind Sie auf diese Ideen gekommen?

Ich war schon immer ein Fan von Science Fiction und lese diese Literatur, seit ich ein Kind war. In meinen Geschichten führe ich meist recht sanft in das spekulative Thema ein. Meist passiert eine leichte Verschiebung der Realität, sodass man auf die Wirklichkeit in veränderter Weise schaut. J. G. Ballard ist ein Meister darin. Architektur ist oft ein wesentliches Element in der SF, weil sie in sich selbst das Gewicht der Zeit trägt – wie Ruinen zum Beispiel, und manchmal kann Architektur die Ideen oder Formen der Zukunft verkörpern. Durch Architektur kann man den Fluss der Zeit wie durch eine Brille beobachten.

Auffällig viele Comiczeichner aus Italien haben Architektur studiert, zum Beispiel Lorenzo Mattotti, Milo ­Manara, Guido Crepax. Wie kommt das?

In dieser Zeit (1960er bis 1980er Jahre) gab es einfach noch keine Comic-Schulen in Italien, und die Kunstakademien ignorierten so manche Talente, die heute weltberühmt sind. Mancher Außenseiter wie Lorenzo Mattotti nahm das als Ansporn, um sich künstlerisch zu entwickeln, und kreierte eine weitergehende Vision davon, was mit dem Medium möglich war. Das Architekturstudium hat das definitiv mit beeinflusst.

In Ihrem neuesten Buch „Hypericum“ spielen die Bauten Berlins, unter anderem die Neue Nationalgalerie, eine große Rolle. Wirken manche Architekturen inspirierend, um eine Geschichte zu beginnen?

Die Architektur selbst enthält schon eine Geschichte, nicht nur die Gebäude einiger „Archi-Stars“. Wie auch die Räume, in denen wir als Kinder gespielt haben, ein bestimmter Keller, eine Brücke, ein abgewracktes Hotel … Ist die Architektur einmal in meinem Gehirn gespeichert, dann scheint sich die Story wie von selbst zu entwickeln, die Charaktere lernen, sich darin zu bewegen, und diese ganze Welt erwacht für mich zum Leben.

In „Hypericum“ haben Sie eine zweite Handlungsebene aufgezogen, in der es um ­Howard Carter und seine Entdeckung des Grabes von Tutanchamun geht – warum haben Sie diese Story gewählt und nicht zum Beispiel die Entdeckung der Nofretete, die eine engere „Beziehung“ zu Berlin hat?

Die Lektüre des Tagebuchs von Howard Carter war für mich der Ausgangspunkt für die Idee zur Graphic Novel. Es enthielt so viel literarischen Gehalt, dass es auch unabhängig als Story funktionieren würde. Nofretete ist hingegen „nur“ ein wunderschönes Kunstwerk, aber weder das Objekt noch seine Entdeckung haben eine derart faszinierende Aura, eine universale Ausstrahlung wie die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun.

Kann man das Comiczeichnen heute in Italien studieren? Wie haben Sie es gelernt?

Heute gibt es eine Menge an Comic-Studiengängen in Italien. In jüngster Zeit machen Comics einen großen Anteil des Buchmarkts aus. Aber als ich ein Teenager war, sah das noch ganz anders aus, und ich hatte nie die Chance, das Metier zu studieren. Ich hab’s mir selbst beigebracht. Und kann heute glücklicherweise von den Buchveröffentlichungen leben.

Italien ist Gastland der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Comicszene in Italien?

Die Situation hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich weiterentwickelt. Man kann heute viele Rezensionen von Comics in den Zeitungen lesen, und jedes Jahr entdeckt man interessante neue, junge Autorinnen und Autoren, Zeichnerinnen und Zeichner. Doch es ist weiterhin schwer, davon leben zu können.

Werden deutsche Zeichnerinnen/Zeichner wahrgenommen?

Deutsche Comics sind nicht sehr bekannt in Italien. Ich selbst kenne sicher einige Künstler, der Durchschnittsleser weniger.

Sie lebten zeitweise in Berlin, Paris, Oslo, augenblicklich mit Ihrer Familie in Venedig – wo fühlen Sie sich zu Hause?

Gerade schon sehr in Venedig. Es fühlt sich aber an, als wäre es nicht derselbe Typ, der in all diesen Städten gelebt hat, sondern fünf oder sechs verschiedene Personen. Ich bin das Produkt eines ziemlich nomadischen Lebens. Ich tendiere dazu, mich einer bestimmten Zugehörigkeit, sei es zu einer Stadt oder einer einzelnen Nationalkultur, zu verweigern.

Ist bereits eine neue Graphic Novel in Arbeit?

Ja, ich kann aber nur sagen, dass es die Adaption eines neueren, fantastischen Science-Fiction-Romans wird.

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