Neue Graphic Novel aus Frankreich: Leise ironische Akzente
Gefühlsstrudel auf der Comicmesse: Bastien Vivès macht in „Letztes Wochenende im Januar“ einen Comiczeichner zum Protagonisten einer Liebesgeschichte.
Jedes Jahr trifft sich Ende Januar im westfranzösischen Städtchen Angoulême die ganze Welt, wenn das internationale Comicfestival stattfindet. Auch Denis Choupin ist gekommen. Der mittelalte Comiczeichner arbeitet an einer Endlos-Kriegscomicreihe namens „Operation Hitler“. Er ist kein Star, aber durchaus bekannt. Mit einer Zeichenmappe und Stiften ausgestattet, begibt er sich in die Festivalroutine, um Bücher zu signieren und Kollegen zu treffen. Samstagabend muss er zurück bei seiner Familie sein, dann findet die Verlobungsfeier seines Sohnes statt. Doch eine Begegnung wirft seinen engen Zeitplan komplett über den Haufen …
Diese fiktive Szene hat der französische Zeichner Bastien Vivès entwofen. 1984 geboren, war er vor knapp 15 Jahren der Shootingstar der französischen Comicszene. Seine Graphic Novels „Der Geschmack von Chlor“ (2008), „Polina“ (2011) und andere haben dazu beigetragen, dass der französische Comic zeitgemäßer geworden ist.
Vor einem Jahr geriet er in den Fokus einer MeToo-Kampagne innerhalb der Comicszene: Ihm wurde eine Verharmlosung von Pädophilie und sexueller Gewalt in seinen oft erotischen Comics vorgeworfen, eine ihm gewidmete Schau in Angoulême wurde wegen Drohungen abgesagt. Auf der anderen Seite begann eine ebenso hitzige Diskussion über die Freiheit der Kunst. Mittlerweile hat sich Vivès von seinen umstrittensten Darstellungen distanziert. Der 39-Jährige ist produktiv wie eh und je, zeichnet unter anderem neue Abenteuer von „Corto Maltese“.
„Letztes Wochenende im Januar“ spielt nun ausgerechnet auf dem Comicfestival. Subtile Rache des Zeichners? Eher nicht – auch wenn es wieder um körperliche Anziehung geht, ist die Graphic Novel nicht anrüchig. Vivès setzt diesmal ganz auf differenzierte Darstellung von Gefühlen und verhaltene Erotik.
Am Signiertisch, wo sonst nur nerdige Fans herumlungern, um Sondereditionen zu ergattern, begegnet sein Protagonist, Comiczeichner Denis – ein eher unscheinbarer Brillenträger mit Schnauzer – einer hübschen, elegant gekleideten Frau, die ihn um eine Signatur bittet. Allerdings für ihren Mann, der gerade keine Zeit habe.
Referenz an die Comicgeschichte
Sie selbst schätzt immerhin die Qualität von Denis’ Zeichnungen. Denis verliert sie danach aus den Augen, begegnet ihr jedoch im Gedränge bald wieder. Er erfährt, dass sie Vanessa heißt, Ärztin ist, und lernt auch ihren Mann Marc kennen. Bastien Vivès erlaubt sich hier einen Insider-Spaß, indem er Marcs Äußeres an einen populären Comichelden anlehnt: an „Michel Vaillant“, den von Jean Graton 1957 erfundenen Rennfahrer, der geradezu dem Idealbild eines Mannes entspricht. Schwere Konkurrenz für Denis!
Überhaupt setzt Vivès oft leise ironische Akzente. Die Comicszene besteht aus lauter guten Kumpels, die sich begrüßen, jedoch kommt im Dauertrubel kein tiefer gehendes Gespräch zustande. Fast schon ein Running Gag ist, dass Denis die ganze Zeit seine Originale mitschleppt, die er einem Galeristen übergeben will. Doch wird das Vorhaben dadurch verhindert, dass Denis immer wieder auf Vanessa und Marc trifft und sich lieber mit diesen verabredet. Es wird klar, dass Denis und Vanessa sich gegenseitig anziehen …
Bastien Vivès: „Letztes Wochenende im Januar“. Aus dem Französischen von Resel Rebiersch. Verlag Schreiber & Leser, Hamburg 2023, 184 Seiten, 22,80 Euro
Bastien Vivès’ wie immer auf dem Tablet angefertigte, pinselartige Zeichnungen scheinen zu fließen, sie besitzen eine große Leichtigkeit. Der Zeichner beschränkt sich farblich auf Schwarz-Weiß und Grautöne, was zur Winterstimmung gut passt. Manche Panels sind bewusst unscharf gezeichnet, um Stimmungen zu erzeugen, leere Flächen akzentuieren meist einzelne Figuren.
Obwohl sehr wenig an äußerer Handlung passiert, gelingt es Vivès, eine Spannung aufzubauen, die sich nonverbal zwischen den beiden zentralen Figuren entwickelt. Es knistert – auch wenn beide glücklich verheiratet sind, läuft alles auf den Punkt hinaus, dass es irgendwann passieren muss. Vivès erzählt die Geschichte einer sich langsam steigernden emotionalen Nähe zweier völlig Unbekannter. Er nimmt seine Leserinnen und Leser mit in einen Gefühlsstrudel, lässt sie eine Amour fou spüren, die wohl nur abseits des Alltags möglich ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!