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Das Miteinander in der ÖffentlichkeitDie Welt als Schlafzimmer

Der öffentliche Raum als Zuhause, um das sich alle kümmern: könnte das nicht wunderbar sein? Aber zum Miteinander gehören halt auch die anderen.

Miteinander leben in der Öffentlichkeit, das kann man lernen. Das Tempelhofer Feld ist gutes Terrain zum Üben Foto: Christophe Gateau/picture alliance

E s ist Winter und Abend und dunkel und kalt, draußen fällt gerade wieder Schnee, und ich denke an ein Buch, das ich im Sommer gelesen habe. Es war Jonathan Franzens Roman „Freiheit“, und darin steht ein Satz, der mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich musste gestern beim Spazierengehen wieder daran denken, als ich an einer jungen Frau vorbeiging, die unter ihrem dicken Steppmantel eine Art Schlafanzug mit niedlichen bunten Bärchen darauf trug. Franzens Satz besagt etwa, dass heutzutage manche Menschen draußen in der Öffentlichkeit angezogen seien, als sei „die Welt ihr Schlafzimmer“.

Es hat mich schon öfter beschäftigt, wie Leute auf die Straße, in die Öffentlichkeit gehen­, also in diesem Fall: wie sie dabei bekleidet sind. Es geht mir dabei nicht um die Klage mancher Leute, dabei „zu viel Haut“, zu viel Körper sehen zu müssen.

Aber ich war manchmal etwas verwundert, wenn Kol­le­g*in­nen im Sommer in weißen Feinrippunterhemden (wussten Sie, dass die in der Modebranche „Wifebeater“ heißen?), Shorts und Flipflops zur Arbeit kamen und sogar zu Presseterminen gingen. Ich hätte mich das nicht getraut: Für mich gab es einen Unterschied zwischen Drinnen und Draußen, der sich in der Bekleidung zeigte. Das liegt vielleicht daran, dass ich aus einer aufgestiegenen Arbeiterfamilie komme: Da zog man sich draußen „gut“ an und drinnen eher schlampig – auch, um die „guten“ Sachen zu schonen. Ich wäre in Unterhemd und Flipflops tatsächlich nur vom Schlaf- ins Badezimmer gegangen.

In Unterhemd und Flipflops tatsächlich nur vom Schlaf- ins Badezimmer

Aber als ich damals den Satz von Jonathan Franzen las, kam mir plötzlich der Gedanke, dass das ja vielleicht auch eine gute Sache ist: Wenn Menschen die Welt als ihr eigenes Schlafzimmer betrachten, dann heißt das doch, dass sie auch mehr Verantwortung für sie übernehmen. Sie ist damit ja kein rein öffentlicher Ort mehr, um den sich irgendwelche anonymen Institutionen zu kümmern haben, sondern ihr eigenes Zuhause, um das sie sich kümmern, das sie hüten und pflegen, beschützen.

Nur schöne Konsequenzen

Mir gefiel diese Betrachtungsweise, denn wenn immer mehr Menschen ihre Umgebung, die Welt, in der sie leben, als ihre Privatangelegenheit, ihr Heim ansehen, dann kann das doch eigentlich nur schöne Konsequenzen haben: mehr Aufmerksamkeit für die Dinge und die Menschen, die dort sind, ein pfleglicher Umgang und freundschaftliche oder fami­liäre Gefühle gegenüber den anderen – denn die wohnen ja auch da.

Was mich daran dann aber wieder zweifeln ließ, ist eine andere Art, die Welt als eigene Wohnung zu betrachten: Ich meine das laute Telefonieren draußen, auf der Straße, auf der Sitzbank, im Bus. Ja, finden Sie das ruhig blöd: Mich nervt etwas daran. Nicht, dass ich dabei Dinge mitkriege, die ich nicht wissen möchte.

Mich nervt, dass es meiner schönen Jonathan-Franzen-Theorie widerspricht. Denn die Leute, die da so laut telefonieren, verlangen dabei ja von mir, dass ich sie sozusagen „überhöre“: dass ich sie eben nicht wahrnehme in ihrer Privatheit, sondern so tue, als hörte ich sie nicht.

wochentaz

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Diese Forderung nach Anonymität, die da von jemandem erhoben wird, der Privates aus eigener Entscheidung in die Öffentlichkeit trägt, gefällt mir nicht. Sie lautet: Tu du jetzt so, als wärst du kein Mensch – damit ich einer sein kann. Sie erinnert mich an Klagen, die ich manchmal zum Beispiel auf Instagram präsentiert bekomme und die oft von Neu-Berliner*innen stammen, die sich „Expats“ nennen: In Berlin werde man angeschaut, heißt es da, die Leute guckten einem in der Öffentlichkeit direkt ins Gesicht! Das sei ungeheuerlich, ein Angriff quasi. Man wisse ja schließlich nie, ob man es mit einem Psychopathen zu tun habe.

Das gefällt mir nicht. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der erwartet wird, dass man andere Menschen überhört und übersieht. Miteinander leben in der Öffentlichkeit, das muss man aber wohl auch einfach aushalten können. Ich glaube, es ist Übungssache: Man kann es erlernen, wenn man will.

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Kolumnistin taz.stadtland
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1 Kommentar

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  • Interessanter und reflektierter Text aus dem analogen Leben in Berlin!



    Denke jedoch nicht, dass es an der Herkunft liegt, wenn es, wie der Autorin, einem Menschen unbehaglich wird, wenn andere Personen sich in der Öffentlichkeit offensiv "heimelig-schlampig" zeigen und gerne lautstark telefonieren etc., etc...! Manche hinterlassen auch gerne wahllos Müll für jene, die ihn abräumen müssen oder wühlen in Läden rücksichtslos herum, wenn etwas runterfällt von den Klamotten..., sowas von egal, egal! Man lässt es liegen.



    Die Egos sind größer geworden in einer Zeit, die tendenziell Entzivilisierungsaspekte auch anderer Art zeigt.



    Das zieht sich von oben nach unten durch, klassen- und schichtenunabhängig.