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Festival für neue MusikKlänge im Entschwinden

Seit 25 Jahren gibt es das Festival Ultraschall Berlin. Jüngere und jüngste Musik in der Jubiläumsausgabe reagierte auch auf aktuelle Konflikte.

Dirigentin Lin Liao und das DSO beim Eröffnungskonzert von Ultraschall Berlin Foto: Thomas Ernst/rbb

Berlin taz | „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein / Und das heißt: Erika“. Diese Zeilen gehören nicht zum Standardprogramm des Konzertbetriebs, sie stammen aus dem Marschlied „Erika“ des Komponisten Herms Niel, der Text und Melodie in den dreißiger Jahren im Dienst der NS-Propaganda schrieb. Zu hören war das Lied am Mittwoch im Haus des Rundfunks beim Eröffnungskonzert von Ultraschall Berlin. Wenngleich lediglich in fragmentierter Form und als Teil eines elektronischen Zuspiels in der Komposition „Memory Code“ der russischen Komponistin Alexandra Filonenko.

Filonenko, die in Berlin lebt, hatte für die deutsche Erstaufführung ihres Orchesterwerks eine neue Fassung erstellt, die vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin (DSO) unter Lin Liao am Mittwoch uraufgeführt wurde. Über weite Strecken komponiert Filonenko dabei so heftig ineinander verschlungene rhythmische Figuren der einzelnen Orchestergruppen, dass man zum Teil kaum unterscheiden konnte, was gerade auf der Bühne gespielt wurde und was als Konserve hinzukam.

Ausgenommen das Marschlied, mit dem Filonenko erkennen ließ, dass zu diesem „Gedächtniscode“ auch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gehört, dessen Spuren in Berlin noch gegenwärtig sind. Und selbst wenn man in dieses Stimmendickicht ansonsten kaum hineinkam, sich horchend mehr darum herumbewegen musste, gab es stets neue Brocken kompakten Klangs, die einen bereitwillig diesem mahlenden Fluss folgen ließen.

25 Jahre schon gibt es das gemeinsam von den Sendern RBB Kultur und Deutschlandfunk Kultur veranstaltete Musikfest, in dem die im engeren Sinn „neue Musik“ einen festen Stammplatz hat. Und auch wenn die akademische Musik in ihrer Klanglichkeit in der Regel so für sich steht, dass sie gern „abstrakt“ genannt wird, verarbeitet sie oft sehr konkrete Ereignisse.

„Am Meer“ nennt die ebenfalls aus Russland stammende Olga Rayeva ihr für Knopfakkordeon und Orchester geschriebenes Auftragswerk von Deutschlandfunk Kultur, das am Donnerstag ebenfalls im Haus des Rundfunks vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Vladimir Jurowski mit dem Solisten Roman Yusipey uraufgeführt wurde. Eine persönliche Erinnerung an die Stadt Mariupol, in der Rayeva als Kind, lange vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, viel Zeit verbrachte. Geisterhaft wehen isolierte Klangpartikel vorüber, wie unbeweglich, einige Klänge scheinen zu ersterben, kaum dass sie begonnen haben. Tönende Trauerarbeit.

Leise, nie wütend

An Trauer lassen auch die Gesten in dem am selben Abend dargebotenen „Traces of a Burning Mass“ von Farzia Fallah denken. Die in Teheran geborene Komponistin wählte die suchenden, vorwiegend leisen, nie wütenden Klänge unter dem Eindruck der Proteste gegen den gewaltsamen Tod von Mahsa Amini im Polizeigewahrsam im Herbst 2022.

Weniger direkt an politische Geschehnisse angelehnt ist die Musik des französischen Komponisten Jean Barraqué. Er galt neben Pierre Boulez als der wichtigste Vertreter der seriellen Musik, war einige Jahre mit dem Philosophen Michel Foucault liiert, nach seinem frühen Tod 1973 hinterließ er ein sehr überschaubares von ihm autorisiertes Werk. Erst 2009 wurde sein Frühwerk entdeckt, aus dem am Sonnabend im Radialsystem vor allem Lieder zu hören waren.

Barraqué zeigt sich in diesen oft knappen Stücken stark expressiv und dramatisch, ob in erweitert tonaler Innigkeit oder mit zerrissenen, rhythmisch schroffen, dissonanten Attacken. Den Klavierpart übernahm Michael Wendeberg, der eingesprungen war für den erkrankten Nicolas Hodges, einen Fürsprecher Barraqués. Als Sängerinnen überzeugten die Sopranistin Katrin Baerts und die Mezzosopranistin Nina Tarandek.

Die Dreckskerle der Welt

Ein wenig Politik brachte dann der Moderator Rainer Pöllmann von Deutschlandfunk Kulturins Spiel, als er Barraqué mit dem Satz zitierte: „Ich glaube, dass die Musik einen davor bewahrt, ein – um es kurz mit einem sehr groben Wort zu sagen – Dreckskerl zu sein.“ Was Pöllmann nutzte, um auf die „Dreckskerle“ zu verweisen, die heute in der Welt das Sagen haben.

Ein im unschuldigen Sinn schöner Abschluss folgte am Sonntag, zurück im Haus des Rundfunks, und noch einmal, wie es bei Ultraschall Berlin für Anfang und Ende Tradition ist, mit dem DSO, nun unter André de Ridder. Präzise gestaltete Farbenpracht bot das Klarinettenkonzert von Unsuk Chin mit der Solistin Boglárka Pecze. Zu Beginn des zweiten Satzes meinte man, statt Bläsern eine Glasharmonika zu hören.

Wie man in Klänge und Geräusche von Klavier und Orchester introspektiv hineinhorcht, ohne ausschließlich stille Momente zu gestalten, demonstrierte der Komponist Mark Andre mit seinem theologisch fundierten „Im Entschwinden“, einer Reflexion über die flüchtige Begegnung des auferstandenen Jesus mit seinen Jüngern. Ein auf spröde Weise sinnliches Ende ohne Theaterdonner. Hier sprach die Musik, nur für sich.

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