Hochwasser in Niedersachsen: Auf einmal mitten im Gefahrengebiet
In Lilienthal ist ein Deich gerissen, Nachbarn packen mit an. Auch unser Autor füllt auf Familienbesuch Sandsäcke, allerdings mit mulmigem Gefühl.
Der Boden ist aufgeweicht, der Matsch quillt mir hoch bis zu den Knöcheln und durchnässt Schuhe und Strümpfe. Hier draußen sind es schneidige acht Grad. Egal. Jetzt heißt es schaufeln. Den Sand in den Sack, dreiviertel voll, maximal. Gut zubinden und nach hinten durchreichen, auf eine Palette stapeln. Weiter.
Seit Tagen kämpft die niedersächsische Gemeinde Lilienthal gegen das Hochwasser. Der Vorort von Bremen hat es wie Rinteln oder Nordhausen in die Nachrichten geschafft. An den Flüssen Wörpe und Wümme steht das Wasser bis kurz unter der Deichkante. Die Wiesen des Naturschutzgebiets um die Wümme sind bis zum Horizont überschwemmt. Das sollte die Flüsse entlasten, reicht aber nicht. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk versuchen Tag und Nacht, die Deiche mit Sandsäcken zu befestigen.
Auf einmal in einem Gefahrengebiet zu sein, ist irgendwie unwirklich. Freunde rufen voller Sorge an und erkundigen sich. Dabei ist das hier nicht das Ahrtal und natürlich sind auch nicht alle Anwohner*innen Lilienthals von dem Hochwasser betroffen. So stelle ich mir das bei vielen Katastrophen vor: Schon zwei, drei Straßen weiter merkst du eigentlich nichts mehr von dem Unglück, isst deinen Feiertagsschmauß und holst den Wein aus dem trockenen Keller. Bis du das Radio wieder anmachst oder mal spazieren gehst.
Draußen erleuchten mobile Scheinwerfer-Stationen die Einsatzorte, rangieren die Bagger, düsen die Feuerwehren durch die Straßen und wummern die Bauern mit ihren Traktoren und Anhängern voller Sandsackpaletten vorbei. Es ist ihre große Stunde. Unermüdlich sah man sie tags zuvor noch Wassermengen in Güllefässen durch den Ort transportieren, an der einen Ecke aufgefüllt, an der anderen wieder abgelassen.
Aussichtsloser Kampf gegen Wasser im Keller
Wohl ein aussichtsloser Kampf, so wie der vieler Anwohner*innen nahe des Flusses. Mit Pumpen hatten sie die Keller versucht trocken zu legen, reihenweise lief das Wasser aus den kleinen Gartenschläuchen in den Rinnstein. Sandsäcke gab es schon länger nicht mehr für Privatleute und für einzelne vollgelaufene Keller hat die Feuerwehr auch keine Kapazitäten mehr.
Noch am Dienstag konnte ich einen Anwohner am Mühlenbach auf seinem Grundstück direkt an der Wörpe herumstapfen sehen. Die Fluten des Flusses und sein pitoreskes Holzhaus trennte nur der kleine Deich, wo das Wasser bis an die Kante reichte, während der Mann etwa einen Meter tiefer im bereits knöcheltief durchnässten Gras seines Gartens einsank. Er räumte irgendwas von hier nach da, ich glaube einen Gartenstuhl, und tat so als würde das etwas nützen. Etwa 200 Meter weiter mühten sich die Feuerwehrleute bereits die gleiche Wasserkante mit einer Reihe an Sandsäcken auf dem Deichweg aufzuhalten.
Am Mittwochnachmittag dann heißt es „Deichriss“ an der Wörpe und am späten Abend: Evakuierung. „Alle Anwohnenden werden gebeten unverzüglich alle wichtigen Dinge wie u.a. wichtige Dokumente, Kleidung und Medikamente für einige Tage einzupacken und ihre Häuser zu verlassen“, schreibt die Gemeinde in der Nacht zu Donnerstag um 1.52 Uhr auf ihrem neu eingerichteten Whatsapp-Kanal. Betroffen ist das Wohngebiet an der Wörpe und auch der Mann mit dem schönen Holzhaus. Wer nicht bei Verwandten und Freunden unterkommt, wird in eine Turnhalle gebracht. Die Hauptstraße ist gesperrt. Es gibt Anweisungen, wie Strom und Gas sicher abzuschalten sind.
Wo kriegt man ein Kurbelradio her?
Ein mulmiges Gefühl kommt in mir auf. Braucht man Essensvorräte? Wie ist das mit Trinkwasser? Was, wenn der Strom ausgeht? Die Gedanken wirken immer noch übertrieben, das Hochwasser ist auf der anderen Seite des Dorfes. Trotzdem lade ich mir die Notfall-Informations-App Nina vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auf mein Smartphone. Da steht als Tipp bei Hochwasser, vorsorglich sollte in jedem Haushalt ein batteriebetriebenes Radio oder ein Kurbelradio zur Verfügung stehen. Wo kriegt man sowas?
Wenige Stunden zuvor ist die Stimmung beim Sandschippen fast noch ausgelassen. Alle wollen etwas tun. Wer mitdenkt, hat eine Schaufel und eine Warnweste dabei und feste Schuhe an. Im Matsch unter den Scheinwerfern weichen geübte Hierarchien auf. Neuankömmlinge stehen erstmal herum. Eine Teenagerin, die schon länger mithilft, weist eine Männergruppe ein. „Kleine Reihen bilden“, sagt sie. „Vorne füllen, hinten zubinden.“ Ein Typ in neongelber Arbeitsjacke teilt seine Erinnerungen: „20 Jahre bei der Marine“, sagt er. Da hätten sie auch immer Ketten gebildet, wenn der Proviant an Bord musste. Jetzt hört auch er auf das Mädchen.
Was wäre, wenn neben mir ein Fascho schaufelt?
Ich treffe einen alten Schulfreund. Er steht auf einmal neben mir in der Kette. „Bist du auch wegen der Nazis da?“ fragt er und lacht. Wir waren früher gemeinsam antifaschistisch aktiv. Es ist ein Scherz, auch er ist selbstverständlich zum Helfen hier. „Man würde sich schlecht fühlen, wenn man nicht dabei wäre“, sagt er.
Tatsächlich hatte ich kurz darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn neben mir ein Fascho schaufelt – zwei bekannte Rechte wohnen direkt um die Ecke. Ist das in einer Notsituation noch wichtig? Die Begegnung bleibt mir erspart, aber es ist das, was passiert: ein Zusammenrücken der Gemeinschaft, die jetzt notwendig und gut ist und mich gleichzeitig abschreckt. Im Katastrophenfall zählt nichts mehr als die Tat, die Anweisung und die Uniform. Rechte finden das attraktiv.
Mir tut beim Sandschippen schon nach dem dritten Sack das Handgelenk weh. Ich schwitze, mein Rücken meldet sich und die Turnschuhe waren keine gute Idee. Nach vier Stunden ist der Sand abgefüllt. Ich halte nicht ganz so lange durch. Abends gibts dann noch Raclette.
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