Arbeitsbedingungen an Sonderschulen: Sonderpädagogik lohnt sich nicht
In Hamburg streiken Beschäftigte an Sonderschulen. Es gebe zu wenig Personal für zu viele Schüler*innen. Ein Grund dafür sei das geringe Gehalt.
HAMBURG taz | Die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes gingen am Donnerstag in die dritte Runde. Zuvor fand an der Schule Bekkamp in Hamburg-Jenfeld eine Protestkundgebung von Elternvertretungen und den Beschäftigten von Speziellen Sonderschulen in Hamburg statt.
„Wir können diese Situation nicht mehr verantworten und haben uns deshalb zum Streik als letztes Mittel entschieden, um eine Lösung für uns und die Kinder zu erkämpfen“, sagt Marion Ziegler, Erzieherin an einer Hamburger Sonderschule. „Wir brauchen eine höhere Bezahlung.“ Auch die Elternvertreter*innen teilen die Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen an den Schulen. Zugleich rufen sie zu einer schnellen Lösung auf. Denn viele Familien können die Streiktage nicht auffangen und fühlen sich alleingelassen. „Wir und unsere Kinder sind auf verlässliche Beschulung existenziell angewiesen“, sagt Leonie Milionis, Vorstand im Kreiselternrat der Sonderschulen.
Pädagog*innen, Eltern und Kinder – sie alle leiden unter der angespannten Personallage an Hamburger Sonderschulen. Eigentlich sollen hier Sonderpädagog*innen gemeinsam mit Erzieher*innen und Therapeut*innen in den Klassen arbeiten. „Als wir an die Schule kamen, wurde uns gesagt, dass vier Betreuer*innen pro Klasse geplant sind“, sagt Steffi Ramizi aus dem Elternrat Bekkamp. Die Realität ist aber eine ganz andere. Die Schulklassen sind zu groß, es gibt viel zu wenig Personal in Pflege, Betreuung, Therapie und Unterricht.
Viel Arbeit, wenig Geld
Der Hauptgrund für den eklatanten Personalmangel sei die geringe Bezahlung, argumentieren die Mitarbeiter*innen der Speziellen Förderschulen, von denen es in Hamburg elf gibt. Weil sie nach dem Tarifvertrag der Länder bezahlt werden, verdienen sie aktuell 10,5 Prozent weniger als viele ihrer Kolleg*innen, die zum Beispiel in Kommunen außerhalb Hamburgs angestellt sind und nach dem Tarif des öffentlichen Dienstes bezahlt werden. Die Jobs an den Speziellen Förderschulen werden so zunehmend unattraktiv, viele der freien Stellen bleiben unbesetzt. Das führt zu einer dramatischen Überbelastung für die Beschäftigten, die Qualität des Unterrichts und der Betreuung leide extrem darunter.
Die Hamburger Schulbehörde konnte gegenüber der taz keine Angaben machen, ob eine bessere Bezahlung der Fachkräfte die Situation an den Förderschulen verbessern würde. Auch die Frage, wie viele Stellen an den Speziellen Förderschulen in Hamburg aktuell unbesetzt sind, blieb unbeantwortet.
Dass den Schulen Leute fehlen, ist unbestritten. Allein am Bekkamp sind im Moment vier Lehrer*innen-Posten nicht besetzt – etwa ein Drittel des Kollegiums. Immer wieder müssen deshalb Klassen zusammengelegt werden, die Lehrkräfte können ihrer Arbeit häufig gar nicht richtig nachgehen. „An Unterricht ist kaum noch zu denken, wir machen oft nur noch Betreuung“, sagt Marion Ziegler. Viele Kolleg*innen seien überfordert, von Burn-out bedroht, reduzierten ihre Stelle oder wechselten irgendwann den Beruf, wodurch sich die Personallage noch weiter verschärfe.
Der Frust innerhalb der Lehrerschaft wächst. Vor allem, weil der jetzige Zustand die Entwicklung der Kinder ausbremse. „Wir arbeiten mit den Kindern, damit sie später in der Lage sind, selbstständig an der Gesellschaft teilzuhaben. Darauf haben sie ein Recht“, sagt Ziegler. Dieses Recht werde durch die Situation an den Schulen gefährdet, so Zieglers Kollegin Svea Wolkewitz. Schlimmer noch: „In der täglichen Arbeit können wir oft die Sicherheit der Kinder nicht mehr gewährleisten“, sagt Erzieher Martin Grafton. Das kann schreckliche Folgen haben. Anfang des Jahres ertrank ein 10-jähriger Autist in der Elbe, nachdem er aus seiner Schule weggelaufen war.
Belastung für Kinder und Eltern
Häufig bleibt als einziger Ausweg, die Eltern darum zu bitten, ihre Kinder für den Tag zu Hause zu behalten. Ein großes Problem vor allem für berufstätige Eltern. Doch ein Kind mit gesondertem Förderbedarf zu betreuen, das sei selbst im Homeoffice fast unmöglich, erklärt Elternvertreterin Milionis. „Wir können nicht mehr“, sagt sie. „Seit Jahren sind wir es, die die Sparpolitik des Senats auffangen.“ Schon während der Coronapandemie mussten viele Familien an die Grenze des Leistbaren gehen.
Der Streik des Schulpersonals, den sie ausdrücklich unterstützen, stellt die Eltern nun vor eine weitere große Belastung. „Wir wollen das nicht mehr hinnehmen“, sagt Milionis. Deshalb fordere man beide Seiten dazu auf, den Streik beizulegen und eine schnelle Lösung für die Probleme der Schulung zu finden.
Was es braucht, da sind sich Lehrer*innen und Eltern einig, sind tiefgreifende Veränderungen – über den Streik hinaus. Die vielen unbesetzten Stellen seien nur die Spitze des Eisbergs, die Stellenbemessung grundsätzlich fehlerhaft, sagt Grafton. Um dem Förderbedarf der Kinder tatsächlich gerecht zu werden, müssten deutlich mehr Stellen geschaffen werden.
Leser*innenkommentare
Christoph Strebel
Personalmangel ist hier ein teils physikalisches, teils spirituelles Problem. Viele Erwachsene haben schon Förderbedarf bei Fleiß und gutem Benehmen. Sich auf schwierige Kinder einzulassen ist noch mal viel herausfordernder.
Auch in anderen Branchen gibt es Personalmangel und gute Löhne und angenehmere Arbeitsbedingungen.
Als ein Amerikanischer Journalist Mutter Theresa bei der Pflege armer kranker Leute beobachtete, sagte er, das würde ich nicht für eine Millionen Dollar tun. Mutter Theresa: ich auch nicht.
Semon
Vieleicht sollten sich die Lehrer mal mit der Lokführergewerkschaft zusammen tun. Die Wissen wir man wirksam streikt. Und das ist nicht als Scherz gemeint.
Ein langer Streik ist das einzige, was hier wirken würde.
Salia
Wegen 10% weniger Gehalt würde ich als studierte Pädagogin niemals einen Job wechseln, sondern nur wegen besserer Arbeitsbedingungen.
Hier in der Stadt in NRW gibt es drei Förderschulen und in allen gibt es mehr als genug Betreuungskräfte, nur mit den Lehrkräften wird es manchmal eng.
Ich habe schon in allen drei Schulen und dort in verschiedenen Klassen als Springern ausgeholfen und in jeder Klasse gab es mindestens 2 Lehrkräfte (in einer für den Schwerpunkt geistige Behinderung sogar 4 und 4 Betreuer für 12 Schüler), oftmals ist man zu 4 oder gar zu 6 (Integrationsassistenten mitgerechnet) in einer Klasse, die Klassengröße ist zudem auf max. 15 Schüler begrenzt.
Dagegen wird in den Regelklassen aufgefüllt bis 30-34 Schüler, darunter immer Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf (vor allem im sozial-emotionalen Bereich, oder Lernen), es gibt es kaum Doppelsteckungen mit Förderschullehrkräften (die dann zusammen mit den Regelschullehrern die Klasse unterrichten) oder pädagogische Fachkräfte die, die Schüler mitbetreuen.
Mir graut es schon davor meinen autistischen Sohn (überdurchschnittlicher IQ) in eine solche Regelklasse einzuschulen nächstes Jahr einzuschulen (ich weiß wovon ich spreche, ich bin selbst hochfunktionale Autistin). In den Förderschulen würde er aber leider kognitiv nicht genügend gefördert werden, da dort das Leistungsniveau viel zu gering für ihn ist und mit dem Verhalten der "aggressiven, dissozialen" Mitschüler komplett überfordert sein (er ist eher ruhig), egal wie gut die personelle Ausstattung ist.
Für eine Privatschule mit kleineren Klassen fehlt uns leider das Geld
Punkiges
@Salia Ich finde, wir müssen aufpassen, dass die Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Niemand nimmt jemandem etwas Weg. Zumindest bezweifle ich, dass man den Personalschlüssel dort aufstocken würde, wenn man ihn hier kürzt.
Deutschland sollte in der Lage sein, sein Schulsystem vollumfänglich abzudecken!
Ich bin selbst Förderschullehrerin in RLP und es kracht wirklich an allen Ecken und Enden. An jeder Schule, die ich kenne. Dagegen sollten gemeinsam die Stimmen erhoben werden. Für eine gerechte und qualitative Bildung aller.