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Presserat zur Aiwanger-BerichterstattungKeine Unschuld vom Lande

Caspar Shaller
Kommentar von Caspar Shaller

Die Bericht­erstattung der „SZ“ über die antisemitische Flugblattaffäre des bayrischen Ministers Hubert Aiwanger war zulässig. Die Presse darf nicht kuschen.

Hubert Aiwanger am 7. September bei einer Sondersitzung im Bayerischen Landtag Foto: dpa

R echerche zu Missständen gehört zu den Kernaufgaben des Journalismus. Doch in den letzten Jahren wehren sich Beschuldigte immer vehementer gegen Berichterstattung über ihre Leichen im Keller.

Einer von ihnen: Hubert Aiwanger. Der bayrische Wirtschaftsminister soll laut Recherchen der Süddeutschen Zeitung aus diesem Jahr als Teenager Flugblätter in seinem Rucksack herumgetragen haben, auf denen als „Preis“ für „Vaterlandsverräter“ (wer damit gemeint war, bleibt bis heute unklar) ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ ausgelost wurde.

Doch statt zu bereuen, berief sich Aiwanger in mafiöser Manier darauf, niemanden „verpfeifen“ zu wollen. Prompt bekannte sein Bruder, der Verfasser des Hassdokuments zu sein. Und Aiwanger ging zum Gegenangriff über: Die SZ habe es auf ihn abgesehen, wolle seine Wiederwahl gefährden. Die Berichterstattung sei mangelhaft, Aiwanger Opfer einer Kampagne. Das behaupteten in Windeseile auch konservative bis rechte Medien. Die NZZ tauschte gar die Rollen: Statt um tiefdeutschen Antisemitismus gehe es hier um Verfehlungen der SZ.

Nun hat der Deutsche Presserat Klarheit in die Sache gebracht: Er lehnt 18 Beschwerden zur Verdachtsberichterstattung der SZ als unbegründet ab. An der Vergangenheit eines führenden Politikers herrsche erhebliches öffentliches Interesse. Auch, dass der geschilderte Sachverhalt 35 Jahre zurückliege und Aiwanger noch (knapp) minderjährig war, werde durch die „gravierenden“ Vorwürfe kompensiert. Ziffer 8 des Pressekodexes, der den Persönlichkeitsschutz regelt, sei nicht verletzt worden. Auch die Salamitaktik des SZ-Rechercheteams, Details in nacheinander veröffentlichten Texten bekannt zu machen, habe nicht gegen die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 verstoßen.

Keine Vorverurteilung

Der Presserat ist zwar kein Gericht, sondern ein Träger der Verlage zur freiwilligen Selbstkontrolle der Branche. Aber sein Urteil hat Gewicht. Die meisten Medien ändern ihre Berichterstattung und sprechen Entschuldigungen aus, wenn sie gerügt werden.

Aiwanger hatte auch behauptet, er werde im Gericht der öffentlichen Meinung vorverurteilt. Das sieht der Presserat anders: Die Vorwürfe seien als solche und nicht als Tatsachen gekennzeichnet gewesen. Außerdem habe Aiwanger die Gelegenheit bekommen, sich vorab gegenüber der SZ zu äußern. Das ist für korrekten Journalismus absolut zentral, geht aber immer wieder im moralischen Eifer unter. Die SZ hat in der Recherche sauber gearbeitet. (Auch wenn es stilistische Probleme gab.)

Wer sich unsauber verhalten hat ist Aiwanger selbst: Auf die Fragen der SZ reagierte er mit Klagedrohung. Seine Strategie ist wohlbekannt: DARVO: Deny, attack, reverse victim and offender, also leugnen, angreifen, Opfer und Täter umkehren. Die Strategie beschrieben Psychologinnen erstmals, um das Verhalten von pathologischen Narzissten und Sexualstraftätern zu beschreiben. Mittlerweile ist es Standard in der Krisenkommunikation. Es ist enorm wichtig, solche Strategien zu erkennen, um sie ins Leere laufen zu lassen – auch, um die Demokratie zu schützen.

Dass Aiwanger trotz der Offenbarung, dass er das Flugblatt mindestens mit sich herumtrug, trotz Zeugenaussagen, er habe den Hitlergruß gezeigt und judenfeindliche Witze gemacht, nicht zurückgetreten ist und bei den Landtagswahlen sogar noch belohnt wurde, ist eine Zäsur in der Bundesrepublik. Aiwanger hatte sogar die Frechheit, kürzlich über „importierten Antisemitismus“ zu schwafeln, wo er doch gerade das prominenteste Beispiel für den hier gezüchteten, noch immer schwelenden Antisemitismus ist.

Diese Projektion auf marginalisierte Gruppen ist ein Beispiel dafür, wie immer mehr aus dem Fokus gerät, wer Macht und Einfluss hat und wer nicht. Wessen Einstellung moralisch zu verurteilen und wessen wirklich gefährlich ist. Darum ist es so wichtig, dass der Presserat klarstellt: Aiwanger ist nicht das Opfer. Aiwanger hat Macht, bei ihm durfte und musste man besonders genau hinschauen.

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Caspar Shaller
Redakteur taz2, zuständig für Medienthemen. Interessiert sich auch für Arbeitskämpfe und sonstiges linkes Gedöns, aber auch queere Themen und andere Aspekte liederlichen Lebenswandels. Vor der taz einige Jahre Redakteur im Feuilleton der Zeit und als freier Journalist in Europa, Nordamerika und dem Nahen Osten unterwegs gewesen. Ursprünglich nicht mal aus Deutschland, aber trotzdem irgendwann in Berlin gestrandet. Mittlerweile akzentfrei.
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4 Kommentare

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  • Mir fällt auf dass ich als fleißiger taz- Leser das Akronym DARVO hier zum ersten Mal lese, obwohl es in unzähligen Artikeln der taz eine wesentliche Rolle spielt.



    Und dann finden sich gerade in diesem Artikel auch noch nebenbei ein paar sehr schöne Nebeninfos dazu.

    Davon sollte es in der taz mehr geben (vor Allem in BILD natürlich).

  • Die ursprüngliche Anschuldigung war, dass Aiwanger der Verfasser der Blattes ist. Nicht, wie hier im Artikel fälschlicherweise beschrieben, dass er das Blatt im Rucksack hatte.

  • Na ja, der Presserat wird von den Medien bezahlt und ist ein zahnloser Tiger. Die "freiwillige Selbstkontrolle" kennt als schärfstes Schwert die offizielle Rüge, mit denen tapeziert der Bild-Chefredakteur regelmäßig sein Büro neu (und ist wahrscheinlich auch noch darauf stolz).

  • Wenn ich mir so die antisemitischen Exzesse auf Deutschlands Straßen betrachte .....