Antisemitismus in Großbritannien: Ein einziger Leidensporno
Unermüdlich demonstrieren Menschen in Großbritannien auf Pro-Palästina-Kundgebungen. Und die BBC setzt auf Emotionen, nicht auf Fakten.
W enn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt geschwommen ist.“ Seit dem 7. Oktober trifft dieses Bonmot auf die britische Gesellschaft zu.
Großbritannien hat plötzlich ein Antisemitismusproblem. Für britische Juden ist dies ein unerwarteter Schock. Eine Beziehung droht auseinanderzugehen. Sie war keine besonders leidenschaftliche Beziehung, aber sie galt als stabil. Beide Partner gingen höflich miteinander um, man besuchte gemeinsam Gedenkveranstaltungen und verdammte die Nazis.
Jetzt stellt sich heraus, hinter der bürgerlichen Fassade betrog man sich seit Jahren und einer der Partner trank heimlich ein antisemitisches Gebräu. Mittlerweile befindet er sich im Delirium tremens. Das Scheidungsverfahren droht schmutzig zu werden.
Wie konnte es dazu kommen?
Im 19. Jahrhundert gab es in Großbritannien einen Premierminister namens Benjamin Disraeli. Er war zwar früh konvertiert, aber sein Aufstieg gab vielen Juden Hoffnung. Auch die britische Aristokratie heiratete emsig in reiche jüdische Familien ein. Eine Tochter aus den anglo-jüdischen Häusern Cassel oder Rothschild zu ehelichen half, die Schlossrenovierung zu finanzieren. Natürlich wollte man nie etwas mit armen Juden zu tun haben.
Dickens’ Fagin-Figur in „Oliver Twist“ zeigte, wie sehr man die Juden verachtete, die aus Osteuropa nach Großbritannien geflüchtet waren. Aber trotz vieler Ressentiments nahm man in den 1930er Jahren jüdische Flüchtlinge auf. Und im Zweiten Weltkrieg kämpften sie an der Seite der Briten.
Ohne die Ereignisse des 7. Oktobers wäre wahrscheinlich keine antisemitische Welle mehr hochgekommen. Aber jetzt ist sie da.
Und anders als in Deutschland wurden in Großbritannien keine offenen Briefe von Literaten und Filmschaffenden publiziert, die ihr Mitgefühl mit Israel ausdrückten.
Stattdessen erschien nach dem Hamas-Massaker ein „Artists for Palestine UK“-Brief. Schauspielerin Tilda Swinton und ihre 4.000 Mitstreiter aus der Künstlerszene werfen darin Israel Kriegsverbrechen vor und fordern alle Regierungen auf, das Land nicht zu unterstützen.
Mit ihrem Appell rannten sie offene Türen ein. In Großbritannien finden unermüdliche Pro-Palästina-Demonstrationen statt und die BBC-Berichterstattung ist ein einziger Leidensporno geworden. Fakten egal, Hauptsache, Emotionen.
Hamas als Terrororganisation
Es begann mit Mishal Hussein. Die BBC-Journalistin ist Muslima und hatte sich bisher für Aussöhnung eingesetzt. Sie ist für ihre wunderschöne, seidenweiche Radiostimme bekannt. Als der britische Verteidigungsminister sie fragte, warum die BBC die Hamas nicht als Terrororganisation bezeichne, war es mit der Seide vorbei. Hussein polterte zurück, nur weil die britische Regierung Hamas als Terrororganisation deklariere, müsse die BBC dies nicht tun.
Ihr Kollege John Simpson entschied, das Wort „Terrorist“ wäre zu „belastet“ und entspräche nicht der BBC-Sprachordnung. Simpson ist 79 Jahre alt und müsste sich eigentlich noch gut daran erinnern können, dass die IRA und der IS von der BBC durchaus als Terroristen bezeichnet wurden. Leider blieb es nicht bei dem semantischen Geplänkel. Als die IDF medizinisches Personal und Übersetzer ins Al-Schifa-Krankenhaus brachte, berichtete die BBC stattdessen, medizinisches Personal wäre vor Ort beschossen worden.
Diese Falschmeldung musste zurückgenommen werden, aber schon zwei Tage später spekulierte der BBC-Korrespondent Jeremy Bowen, es gäbe im Al-Schifa-Krankenhaus wohl nur „ein paar Kalaschnikows für den Sicherheitsdienst“. Die Kalaschnikow-Erklärung hatte Bowen eins zu eins aus einem Hamas-Bericht übernommen, genauso wie seine unüberprüfbaren Opfer-Statistiken. Hamas bedankte sich postwendend und zitierte von nun an Bowen als Quelle.
Noch mehr Freude machte Hamas der britische Fußballer Gary Lineker. Er ist ein Fan von Pro-Palästina-Demonstrationen und retweetet Videos über Israels „Genozid“.
Lineker ist der berühmteste Sportreporter der BBC und erreicht auf Twitter eine Gefolgschaft von 8 Millionen. Früher schoss er gelegentlich ein Tor, heute erklärt er den Nahen Osten per Tweet. Die BBC zeigte Milde mit Lineker und ließ ihn gewähren.
Demonstrationen verboten
Bei jüdischen BBC-Mitarbeitern hörte die Toleranz dann jedoch auf. Ihnen wurde verboten, an der Londoner Demonstration gegen Antisemitismus teilzunehmen. An Pride-Paraden und royalen Jubelfeiern darf man als BBC-Mitarbeiter teilnehmen, an Demonstrationen gegen Antisemitismus nicht.
Die Demonstration fand trotzdem statt. Der Komiker David Baddiel, der in seinem Buch „Jews don’t count“ vor dem britischen Antisemitismus warnt, sagte über die Demo:
„Es war ein wenig chaotisch. Wir hatten keine Ahnung, wo wir genau hingehen sollten und wer reden würde. Es zeigte sich mal wieder, dass Juden wirklich nicht die Welt regieren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Missbrauch in der Antifa
„Wie alt warst du, als er dich angefasst hat?“
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima