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Kapitalisten unserer ZeitEntfesselt trifft radikal

In Argentinien gibt es in Zukunft Anarchokapitalismus. Im Rest der kapitalistischen Welt ist auch etwas passiert: Adele hat geheiratet.

Schillernde Radikal-Kapitalisitin: Adele im August 2022 in London Foto: dpa/PA Wire | Ian West

Was ist ein Anarcho-Kapitalist?“, fragt der Freund auf dem Weihnachtsmarkt und nimmt einen Schluck verregneten Glühwein.

„Na, in diesem Fall ein Argentinier“, sagt seine Frau.

„Ein roh rechter Politiker, der satanisch grinsend mit Kettensäge Wahlkampf gemacht hat!“, sagt die Freundin.

„Das meinst du doch metaphorisch?!“

„Nein, und Javier Milei stand dabei sogar einmal auf einem Auto.“

„Dann ist Anarchokapitalismus komplett entfesselter, also brachial unverhüllter Kapitalismus?!“

„Zählt da dann ganz unverhohlen nur noch das Recht des Stärkeren?“

„Nix und niemand reguliert mehr irgendwas, schätz’ ich.“

„Wow, so einer hat der Welt noch gefehlt!“

„Über Argentinien wird also überall in euren Zeitungen geschrieben?“, fragt die Freundin aus dem Sudan.

„Ja, und wenn ich hier mal weiter guck’ beim Spiegel, Ukraine, Nahost, Elon Musk, Ukraine, Nahost, hmhmhmhm, Adele hat geheiratet!“

„Warum ist das dort eine Nachricht wert?“

„Vielleicht, weil ihr Mann nicht weiß ist?“

„Nee, das wird nicht thematisiert.“

„Na, sie verdient Millionen im Schlaf.“

„Und deshalb schreiben relevante Nachrichtenmagazine darüber, dass sie geheiratet hat?“

„Sie ist Teil des kapitalistischen Systems, sie ist ein Superduperstar.“

„Sie ist als einzelner Mensch verdammt viel wert.“

„Inwiefern?“

„Sie könnte für demoralisierte Soldaten singen, um die Motivation und Kampfkraft ein letztes Mal zu stärken.“

„So was gibt es noch? Dachte, das hat sich seit Marilyn Monroe erledigt!“

„Glaub’, Beyoncé hat das auch mal gemacht!“

„Nee, die hat nur ’ne ziemlich pompöse Videobotschaft zu Weihnachten nach Afghanistan geschickt!“

„Sie hat aber mal Silvester ein exklusives Konzert für den Sohn von Muammar al-­Gaddafi gegeben!“

„Dessen Vorname Hannibal ist!“

„Dafür hat sie zwei Millionen gekriegt!“

„Wozu die Nummer? Sie war doch längst Milliardärin.“

„Ich dachte immer, ihr einziger Fehler ist, dass sie hetero ist“, sagt die sudanesische Freundin.

„Eine wahrhaftig schillernde Radikal-Kapitalistin.“

„Man wird selten überrascht, meist gilt: je reicher, je doller!“

„Die deutschen Soldaten in Afghanistan bekamen mal Besuch von Til Schweiger.“

„Sexy geht anders.“

„Glaub’, der war da auf Werbetour für einen Film, irgendwas mit Kriegstraumata im Unterhaltungsmodus!“

„Warum steht hier was über Haferflocken, aber noch immer nichts über den Sudan?“, fragt die Freundin, die sich durch die Startseite einer anderen Zeitung scrollt.

Alle zucken mit den Schultern:

„Die Leute wollen lesen, was sie betrifft.“

„Aber man könnte sich ja auch mal für andere Themen interessieren als nur für die unmittelbaren.“

„Nur muss man dafür etwas darüber wissen!“

„Alle wissen gerade ziemlich viel und immer mehr und mehr und mehr.“

„Bilden sich übers Telefon weiter und weiter und weiter.“

„Meinungen.“

„Über auserkorene Themen.“

„Und Ernährung.“

„Sind Haferflocken gesund oder doch nicht?“

„Ist doch einerlei, Hauptsache, es gibt genug zu essen.“

„Die Frage für viele ist bloß für wen und wo.“

„Und wie verzweigt der Weg bis zu ihnen ist.“

„Adele ist so furchtbar dünn geworden!“

„Sie habe, um sich stark zu fühlen, 45 Kilo abgenommen.“

„Woher weißt du das?“

„Nicht aus einem Promi-Magazin.“

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Jasmin Ramadan
Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr neuer Roman Roman „Auf Wiedersehen“ ist im April 2023 im Weissbooks Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.
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