Ambulante Pflegedienste: Schutzlos gegen Gewalt
Gewalt gegen Pflegebedürftige nimmt seit Jahren zu. Patientenschützer fordern mehr Kontrollen, Gewerkschaften einen besseren Personalschlüssel.
Pflegekräfte sollen ihnen die falschen Medikamente verabreicht oder diese eigenmächtig abgesetzt haben, Pflegebedürftige sollen sich wegen fehlerhafter Lagerung wund gelegen haben und zwei Frauen aufgrund unsachgemäßer Pflege sogar verstorben sein. So sollen die Mitarbeitenden im Falle einer 75-Jährigen mit verstopfter Luftröhre nicht adäquat reagiert haben.
Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen sieben Angestellte eines ambulanten Pflegedienstes wegen fahrlässiger Tötung, gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Um welches Unternehmen es sich handelt, will die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht sagen.
Aufmerksam sei man auf die Fälle im Rahmen von Kontrollbesuchen in den Wohnanlagen geworden, so ein Sprecher auf taz-Anfrage. Neben des Verdachts des Abrechnungsbetrugs seien dabei auch Missstände in der Versorgung der Bewohner*innen festgestellt worden, woraufhin das Bezirksamt Anzeige erstattete.
Kaum routinemäßige Kontrollen
Senior*innenwohnhäuser sowie verschiedene Formen von Betreutem Wohnen unterliegen im Gegensatz zu Pflegeeinrichtungen keiner besonderen Regulierung oder Beaufsichtigung, wie die Senatsgesundheitsverwaltung auf taz-Anfrage mitteilt.
„Es ist sehr wichtig, sich vor der Entscheidung für eine bestimmte Wohn- und Pflegesituation gut zu informieren“, so Sprecherin Sarah Oswald. Allgemein leisteten sowohl Pflegeheime als auch Pflegedienste jedoch „eine gute und verlässliche Arbeit“. „Wenn gesetzliche Vorgaben an die Qualifikation von Beschäftigten oder an die Qualität der Pflege nicht eingehalten werden, dann sind das ernst zu nehmende Mängel und werden auch als solche geahndet.“
Nur müssen Mängel erst einmal festgestellt werden. So werden ambulante Pflegedienste lediglich einmal im Jahr routinemäßig kontrolliert – und das auch nur in ihren Büroräumen. Bei stationären Einrichtungen finden zweimal im Jahr Kontrollen statt, hinzu kommen anlassbezogene Prüfungen.
Dafür kosten stationäre Einrichtungen auch sehr viel mehr: Während ambulante Pflegedienste auch ohne Zuzahlung der Angehörigen auskommen, kostet ein Platz im Pflegeheim mindestens 3.000 Euro im Monat – für viele ist das nicht zu stemmen.
Eigene Ermittlungsgruppe bei Staatsanwaltschaft
„Ambulante Pflegedienste werden nur unzureichend vom Medizinischen Dienst kontrolliert“, kritisiert die Deutsche Stiftung Patientenschutz. „Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass mögliche kriminelle Machenschaften hier so spät auffallen“, so Vorstand Eugen Brysch zur taz.
Politik und Behörden müssten hier mehr Ermittlungsdruck aufbauen. Brysch fordert flächendeckend Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften für alle Delikte in Pflege und Medizin. Außerdem brauche es kommunale Senior*innenenämter ähnlich wie Jugendämter, die im Verdachtsfall eingreifen können. „Die Schwächsten in der Gesellschaft müssen geschützt werden.“
Eugen Brysch, Deutsche Stiftung Patientenschutz
Obwohl die Misshandlung von Pflegebedürftigen seit Jahren zunimmt, haben nur drei Bundesländer Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, neben Bayern und Brandenburg auch Berlin. Seit 2019 gibt es die Ermittlungsgruppe „Pflege als Risiko“ (PaRis). Ziel ist, dass sich die Strafverfolgungsbehörden mit allen relevanten Akteur:innen, die am Schutz von stationär und häuslich gepflegten Menschen beteiligt sind, vernetzen und austauschen.
Seit Februar 2022 haben Amts- und Staatsanwaltschaft rund 190 Verfahren erfasst, davon 118 im häuslichen sowie 70 im stationären Bereich, also in Krankenhäusern, Senior*innen- und Pflegeheimen. Von den 118 Verfahren im häuslichen Bereich wurden bislang erst vier Anklagen erhoben. Eine endete mit einem Freispruch, eine andere mit einer Geldstrafe für einen Mitarbeiter eines Pflegedienstes, bei den anderen zwei hat die Hauptverhandlung noch nicht stattgefunden. In 37 Verfahren dauern die Ermittlungen noch an, alle anderen wurden eingestellt.
„Lieber schlecht versorgen als gar nicht“
Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen ist oft auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit oder Überforderung. „Es hat viel damit zu tun, wie viel Personal überhaupt da ist und wie qualifiziert es ist“, sagt Gisela Neunhöffer, bei der Gewerkschaft Verdi zuständig für Altenpflege in Berlin. Das habe Einfluss darauf, wie adäquat die Pflegekräfte in kritischen Situationen reagieren können. Der Pflegenotstand wirke sich daher für alle Beteiligten negativ aus.
„Insgesamt haben wir in der Altenpflege einen Teufelskreis aus schlechten Arbeitsbedingungen und zu wenig Personal“, sagt Neunhöffer. „Es gib eine enorme Ermüdung des Pflegepersonals, die können einfach nicht mehr.“ Verdi fordert daher einen „angemessenen Personalschlüssel“. Was das heißt, wird je nach Bundesland unterschiedlich interpretiert.
Für Berlin fordert Neunhöffer einen deutlichen Personalaufwuchs – und dass der Personalschlüssel kontrolliert wird. „Wenn nicht, muss das Konsequenzen haben“, so die Gewerkschafterin. Die Behörden hätten dafür jedoch wenig Kapazitäten. „Da wird auch nicht so genau hingeschaut nach dem Motto: Lieber schlecht versorgen als gar nicht.“
Die meisten werden Zuhause gepflegt
Dabei wird das Problem angesichts der immer älter werdenden Gesellschaft noch größer. Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland 5 Millionen Menschen, die gepflegt werden, vier Fünftel im häuslichen Bereich. Als pflegebedürftig gilt, wer gesundheitlich bedingt in seiner Selbstständigkeit oder anderen Fähigkeiten beeinträchtigt ist.
In Berlin gibt es laut Senatsverwaltung rund 185.000 Pflegebedürftige. Davon werden 15 Prozent in einer Einrichtung vollstationärer Pflege betreut und rund 75 Prozent zu Hause. Davon wiederum gut die Hälfte ausschließlich durch Angehörige und ein knappes Viertel mit Unterstützung durch ambulante Pflege- und Betreuungsdienste. Mehr als jede*r Zehnte hat nur eine geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit und ist daher nicht auf die Pflege durch Angehörige oder einen professionellen Pflegedienst angewiesen.
Mara Rick ist Projektleiterin der Berliner Beratungsstelle „Pflege in Not“ der Diakonie. Hier können sich Pflegebedürftige und ihre Angehörigen Hilfe bei Überforderung, Konflikt- und Gewaltsituationen holen. Fälle von mangelnder Versorgung wie in dem Senior*innenwohnheim in Lichtenberg gebe es immer wieder, sagt sie. Auch Bereicherung auf Kosten der Pflegebedürftigen komme vor. Dies seien jedoch schwarze Schafe, die Mehrheit der privaten Pflegedienste leisteten tolle Arbeit, sagt Rick.
Zudem passiere Gewalt in beide Richtungen. „Das Problem bei der Pflege zu Hause ist, dass sie hinter verschlossenen Türen stattfindet.“ Gewaltausübung sei da schwer zweifelsfrei nachzuweisen. Die Pfleger*innen wüssten zudem oft nicht, was sie hinter der Tür erwartet. Das kann ein medizinischer Notfall sein oder auch ein Mensch mit Suchterkrankung, der aggressiv reagiert. Darauf adäquat zu reagieren sei schwierig, insbesondere für nicht-geschulte Menschen wie Angehörige, die ja den Großteil der Pflege übernehmen.
Zeitmangel der Pflegenden großes Problem
Mitarbeiter*innen von mobilen Pflegediensten hätten zudem oft wenig Zeit, was die Situation zusätzlich erschweren würde. „Stellen Sie sich vor, Sie kommen in ein Zimmer, haben nur 15 Minuten für die Körperpflege und die Person schläft noch. Das ist für alle Betroffenen schwierig.“ Solche Situationen könnten dann leicht eskalieren.
Der Zeitmangel rühre vor allem daher, dass ambulante Pflegedienste im Gegensatz zu stationären Pflegeheimen nach Leistungen bezahlt werden – und nicht nach Bedarf, also der Zeit, die sie tatsächlich benötigen. Wenn zum Beispiel vertraglich nur eine kleine Wäsche à 10 Minuten vereinbart ist, die zu pflegende Person aber aufgrund von Inkontinenz eine intensivere Reinigung benötigt, wird das von der Pflegeversicherung nicht übernommen.
Da die meisten Pfleger*innen es jedoch nicht übers Herz brächten, die Menschen im Stich zu lassen, ginge das auf ihre Kappe. „Die Mitarbeiter in ambulanten Pflegediensten arbeiten permanent gegen die Uhr“, sagt Mara Rick.
Mara Rick, Pflege in Not
Eine flexiblere Lösung wäre aber vor allem eins: sehr viel teurer. Dabei sind die Kosten für die Angehörigen bereits jetzt kaum zu stemmen. Durch das Tariftreuegesetz in der Pflege, das im September 2022 in Kraft getreten ist und laut dem alle Beschäftigten nach Tariflohn bezahlt werden müssen, seien die Kosten massiv gestiegen – die Leistungen der Pflegeversicherung allerdings nicht in gleichem Maße. Leidtragende sind die Pflegebedürftigen und die Pfleger*innen.
Höchste Zeit also, den Pflegenotstand aktiv zu bekämpfen, findet Gewerkschafterin Gisela Neunhöffer. „Es herrscht das Gefühl, dass der Gesellschaft die Menschen egal sind“, sagt sie. „Das befördert dann auch unethisches Verhalten.“
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