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Platz für alle

Trotz Wohnungsnot kämpfte eine Bremer Nachbarschaft gegen die Bebauung eines Platzes in ihrem Viertel. Er soll als Begegnungsort für den Stadtteil erhalten bleiben

Drachenflug statt Betonklötze: Die Waller Mitte ist grün gebliebenFoto: Waller Mitte e. V.

Aus Bremen Selma Hornbacher-Schönleber

Auf der Fahrt in den Bremer Westen pfeift der Herbstwind unter der Hochstraße hindurch. Hier beginnt Walle: ein traditioneller Ar­bei­te­r*in­nen­stadt­teil. An der Straßenbahnstrecke liegen Wohnhäuser, Afroshops, Supermärkten, Kneipen und Dönerläden. Asphalt und Kopfsteinpflaster, alles dicht an dicht. Irgendwo zwischen den Häuserfronten biegt eine unscheinbare Straße ein. Der Platz dahinter ist die Waller Mitte.

Trotz Regen sind ihr die Boule-Spieler treu. Zweimal pro Woche treffen sie sich hier, werfen ihre Kugeln und trinken Kaffee. Letzteres allerdings nur sonntags: Da wird für ein paar Stunden die Bar Centrale aufgebaut, ein mobiles, von Freiwilligen geführtes Café, an dem Gäste gegen Spende und – wie der Barista betont – am liebsten in einer eigenen Tasse ein Heißgetränk bekommen.

Die Waller Mitte hieß früher Dedesdorfer Platz und besteht heute aus einer großen Wiese mit Bänken, Bäumen, einem Sand- und einem Kiesfeld. Auf einer Seite säumen Neubauten den Platz, auf den anderen stehen kleine Waller Häuschen und eine Schule. Früher war hier mal der Sportplatz des Bremer Sportvereins (BSV). Als der 2010 an ein größeres Stadion Richtung Stadtzentrum zog, sollte der Platz eigentlich komplett bebaut werden.

Zunächst aber stand er leer und wurde doch genutzt: Die Wal­le­r*in­nen klettern durch ein Loch im Zaun, spielen Fußball, feiern Kinder- und Erwachsenengeburtstage auf den verlassenen Sportplätzen. Auf einer dieser Geburtstagsfeiern – ein Vierzigster – wird die Idee eines Platzes für alle geboren. Die Waller Mitte soll nicht bebaut, sondern ein grüner Begegnungsort für den ganzen Stadtteil werden. Dafür gründet sich die Bür­ge­r*in­nen­in­itia­ti­ve Waller Mitte. Doch der Bremer Senat hat andere Pläne: Die Stadt braucht Geld, außerdem ist Wohnraum knapp.

Wohnungsmangel trifft Menschen mit niedrigem Einkommen am härtesten. Und davon gibt es viele in Bremen, dem Spitzenreiter-Bundesland in Sachen Armut. Zum Vergleich: Die Bremer Armutsquote liegt mit 28,2 Prozent noch gute acht Prozentpunkte vor Berlin.

Eine naheliegende Antwort auf den Mangel an bezahlbarem Wohnraum lautet – neben der Enteignung großer Wohnungskonzerne – Bauen. Und dagegen wehrt sich nun eine Bürgerinitiative? Ja, aber aus Gründen: Sie befürchtet ein rein an ökonomischen Interessen ausgerichtetes Nutzungskonzept. Einfach was hinzustellen, ist ihnen zu kurz gedacht: Die Stadt lebt nicht vom Wohnraum allein. Der Platz soll ein unkommerzieller Begegnungsort werden in – wie es in einem Schreiben der Initiative von 2010 heißt – „unserer immer enger werden Stadt“. Damit soll der Platz Lebensqualität für die Nachbarschaft erhalten, gerade in einem armen Stadtteil.

Anne Schweisfurth ist von Anfang an mit dabei. Auch sie trotzt dem kalten, mittlerweile aber immerhin trockenen Herbsttag mit einer Tasse Kaffee. Die hat ihr der Barista zuvorkommend ans Boule-Feld gebracht, wo sie in einem leuchtend gelben Regenmantel an einer Bank lehnt.

Fast alle kennen sie hier: Schweisfurth ist eine von denen, die den zähen Kampf um jeden unbebauten Quadratmeter geführt haben. Die sich über neun Jahre endlose Debatten mit all den Senator*innen, die bei der Stadtentwicklung ein Wörtchen mitzureden haben, geliefert hat. Alles, was über den Waller Beirat hinausgehe, sei schwierig, stellt sie fest und erzählt von Tricksereien mit Protokollen, Kommunikationsproblemen und dem Vor-und-zurück der immer gleichen Diskussionen. „Da wurde nicht immer mit offenen Karten gespielt.“

Neben ihr gräbt ein schwarzer Pudel einen Regenwurm aus dem Gras. Dahinter fliegt ein Drachen im Herbstwind und vier kleine Kinder in bunten Overalls buddeln sich unter genauso kleinen bunten Sonnenschirmen im Sandfeld ein. Sandfeld, das ist wichtig: Für die Bremer Verwaltung gab es schon genügend Spielplätze in der Gegend, deshalb wurden keine Spielgeräte auf das Feld gebaut. Die Kinder nehmen das nicht so genau.

Für so eine Initiative braucht es auch Glück, findet Anne Schweisfurth. „Du kannst nicht jeden Prozess gewinnen.“ Aber im Fall der Waller Mitte sei in dem Moment der Investor abgesprungen, der die Bebauung übernehmen wollte, in dem sich die Initiative formierte. Das öffnete neue Möglichkeiten: Statt profitorientiertem Wohnungsbau wollte die Nachbarschaft jetzt mitbestimmen.

Der Senat bleibt eine Herausforderung. Der Prozess sei anstrengend gewesen. Aber am Schluss haben sie Erfolg. „Die haben nicht mit einer so zähen Gruppe wie uns gerechnet“, lacht Schweisfurth. 2015 klinkt sich das Wohnprojekt „Solidarisch Wohnen“ in den Prozess ein. Das bringt neue Energie in die Initiative, die sich mit Mietshäusersyndikaten am Rande des Platzes gut anfreunden kann. Bis heute bringt sich das Wohnprojekt in die Initiative ein.

Statt der ursprünglich geplanten fünf Häuserreihen, steht heute nur eine am Rande der Waller Mitte: Drei Hausprojekte, zwei davon Mietshäusersyndikate, ein drittes als Mischform aus selbst genutzten Eigentums- und Mietswohnungen. Dazu eine Kita und eine Schule. Am anderen Ende des Platzes entsteht gerade ein Neubau für den Martinsclub, den größten Bremer Träger zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Im Erdgeschoss soll ein inklusives Café entstehen.

Die Initiative gründet einen Verein und gewinnt den deutschen Nachbarschaftspreis der nebenan.de Stiftung für nachbarschaftliches und lokales Engagement. Der Verein wird nominiert für die Vielzahl an Veranstaltungen und breite Angebote zur Teilhabe. Der Verein trage dazu bei, „die Nach­ba­r*in­nen zu vernetzen und ihre Lebensqualität aufzuwerten“.

Aber ist die Waller Mitte auch der „Platz für alle“ geworden, um den es ging? „Ja“ – Anne Schweisfurths Antwort ist eindeutig. Der Platz sei sofort von der Nachbarschaft angenommen worden. Kurz vor Corona wurde er eröffnet. „Das Timing war wirklich wunderbar!“

Erklärtes Ziel der Initiative ist es, nicht nur ihre eigene Blase aus Linken und Alternativen anzusprechen. An diesem Sonntag sieht die Waller Mitte allerdings reichlich weiß aus, im Gegensatz zum Durchschnitt von Walle. „Den Unterschied machen die einzelnen Angebote“, erklärt Anne Schweisfurth. Besonders die dienstags stattfindende Veranstaltung „Leselust“ sei immer „proppenvoll“ und werde aus dem ganzen Stadtteil besucht. Kinder seien Schlüssel zur breiten Teilhabe. „Hier sind viele Kids, die nicht jeden Tag Programm haben“, fährt sie fort, „die kommen zum Spielen hier her.“

Trotzdem waren nicht alle An­woh­ne­r*in­nen von der Eröffnung begeistert. Manchen, die sich an die Ruhe des leer stehenden Fußballplatzes gewöhnt hatten, sei es heute zu laut, erklärt Anne Schweisfurth, oder sie ärgern sich über die Neubauten. Wobei: Ein Nachbar, der dem Projekt kritisch gegenüberstand, habe kürzlich bei der Bar Centrale Cappuccino mit Hafermilch probiert. Richtig geschmeckt habe er ihm zwar nicht, aber das sei ja auch okay. Sie ist optimistisch: „Er kommt jetzt öfters vorbei!“

Die meisten nehmen den Platz mit offenen Armen an. Da ist die Fahrradwerkstatt in einem der Wohnprojekte am Rande des Platzes, ein Angebot, das sich mittlerweile im Stadtteil herumgesprochen hat. Da sind Stadtteilessen von denen Pas­san­t*in­nen begeistert erzählen. Die einen führen hier morgens ihre Hunde Gassi und die anderen spielen nachmittags Volleyball im Sand.

Und die Wohnungsnot? Die gibt es immer noch. Laut Angaben der Stadt hat sich die Zahl der Bremer Sozialwohnungen zwischen 2006 und 2022 fast halbiert auf etwa 6.000. Immerhin plant der rot-grün-rote Senat eine Sozialbauoffensive und strebt an, wieder auf 8.000 Sozialwohnungen zu kommen. Die Frage ist nur, wo. „In Stadtteilen mit mehr Grün und mehr Gärten“, sagt eine Anwohnerin bestimmt. „Da tut das nicht so weh wie hier.“

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