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DGB warnt vor Tarifflucht-Folgen130 Milliarden Euro Schaden

Der DGB wirbt für stärkere Tarifbindung und verweist auf den volkswirtschaftlichen Nutzen: Der Staat würde deutlich mehr Steuern einnehmen.

Die Gewerkschaft Verdi kämpft auch bei Amazon schon länger für einen Tarifvertrag Foto: Christian Mang

Berlin taz | Gewerkschaften zahlen sich für Ar­beit­neh­me­r*in­nen aus. Im Schnitt haben Beschäftigte mit Tarifvertrag pro Jahr nach Steuern jährlich 3.022 Euro mehr in der Tasche als ihre Kolleg*innen, die ohne Tarifvertrag arbeiten. Das Problem ist: Immer weniger Beschäftigte kommen in diesen Genuss. Waren 1998 noch knapp drei Viertel aller Beschäftigungen tarifgebunden, waren es vergangenes Jahr nur noch rund die Hälfte.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) möchte diesen Trend umkehren und startete jetzt eine Kampagne zur Stärkung der Tarifbindung. Man werde Druck machen auf die politischen Akteure in den Ländern und im Bund, damit sie sich für mehr Tarifbindung einsetzen, erklärte DGB-Chefin Yasmin Fahimi am Montag in Berlin. „Denn der volkswirtschaftliche Schaden durch die Tarifflucht der Arbeitgeber über drei Jahrzehnte hinweg ist enorm. Das darf die Politik nicht länger ignorieren“, so die Gewerkschafterin und SPD-Politikerin.

Auf jährlich 130 Milliarden Euro beziffert der DGB den Schaden, der dem Fiskus und den Beschäftigten in Deutschland durch Tarifflucht hierzulande entsteht. Für seine Berechnungen griff der DGB auf Daten der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes zurück und berechnete, wie hoch die Mehreinnahmen wären, wenn alle Beschäftigten nach Tarif bezahlt würden.

Demnach entgehen Bund, Ländern und Gemeinden jährlich 27 Milliarden Euro, weil Beschäftigte weniger verdienen und folglich auch weniger Einkommensteuer zahlen, wenn sie nicht nach Tarif bezahlt werden. Die Sozialversicherungen haben jährlich rund 43 Milliarden Euro weniger in den Kassen und die Beschäftigten insgesamt 60 Milliarden weniger Lohn oder Gehalt.

Im Schnitt 12 Prozent mehr Gehalt

„Mit Tarifverträgen gibt es mehr Freizeit, mehr Lebensqualität, aber insbesondere auch höhere Gehälter“, erklärte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Bei gleicher Tätigkeit hätten Beschäftigte mit Tarifvertrag im Schnitt 12 Prozent mehr Geld in der Lohntüte – und bekämen zudem häufiger Urlaubs- und Weihnachtsgeld. So erhalten 80 Prozent der Beschäftigten mit Tarifvertrag am Ende des Jahres Weihnachtsgeld, ohne Tarifvertrag sind es nur rund 40 Prozent.

Dabei gibt es bei der Tarifbindung große Unterschiede zwischen Branchen und Regionen. So haben laut Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in der öffentlichen Verwaltung lediglich 2,1 Prozent der Beschäftigten keinen Tarifvertrag, während es im Einzelhandel mit 74 Prozent rund drei von vier Beschäftigten sind. Und in großen Betrieben gibt es häufiger einen Tarifvertrag als in kleinen.

Unter den Bundesländern weist Bremen die höchste Tarifbindung aus. Dort haben lediglich 35,5 Prozent der Beschäftigten keine kollektiv ausgehandelten Bedingungen. In Sachsen hingegen ist Tarifbindung am seltensten. Dort haben 58,2 Prozent der Beschäftigten keinen Tarifvertrag. Gleichzeitig ist in dem Freistaat der Unterschied zwischen den Gehältern am größten.

Beschäftigte ohne Tarifvertrag verdienen dort im Schnitt 4.721 Euro netto weniger als ihre Kol­le­g*in­nen mit Tarifvertrag. Insgesamt beträgt der Lohnunterschied in den neuen Bundesländern laut Berechnungen des DGB 3.915 Euro jährlich, während es in den alten Bundesländern, wo die Tarifbindung stärker ist, 2.819 Euro sind.

Unternehmen soll Verantwortung übernehmen

„Wir fordern die Arbeitgeber auf, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder gerecht zu werden – und im Übrigen auch dem eigentlichen verfassungsmäßigen Auftrag: mit uns gemeinsam Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu verabreden“, nahm DGB-Chefin Fahimi die Unternehmen in die Pflicht.

Von der Politik forderte die Gewerkschafterin unter anderem die Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie. Diese schreibt eine Tarifbindung von 80 Prozent vor. Unterschreitet ein Mitgliedsstaat diese Grenze, muss er einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen. Dieser sollte laut Vorgaben der EU einen klaren Zeitplan und spezifische Maßnahmen zur schrittweisen Stärkung der Tarifbindung enthalten. Die Bundesregierung hat nur noch gut ein Jahr Zeit, einen solchen Plan vorzulegen.

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4 Kommentare

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  • 4G
    47351 (Profil gelöscht)

    Über die Definition von Schaden sollten wir nochmal sprechen. Über dessen Berechnung auch.

    Der Netto-Monatsverdienst lediger Arbeitnehmer ohne Kinder, also die Gruppe mit der höchsten Belastung an Steuern und Sozialabgaben, ist in den letzten drei Jahren um mehr als 15 % gestiegen. Dementsprechend hatte sich auch der Bruttoverdienst entwickelt.

    Was sagen wir eigentlich zu den vielen Teilzeitbeschäftigten, die aus Gründen der Work-Life-Balance oder ähnlichem weniger verdienen wollen? Und zu den vielen Selbstständigen erst, die in vielen Bereichen überhaupt nicht sozialversicherungspflichtig sind.

    Verursachen die auch Schäden?

  • Milchmädchen/männer-Rechnung



    Man kann sich alles schön rechnen, und dies ist ein Paradebeispiel für Schönrechnerei.



    Dass es nur noch halb so viele Gewerkschaftsmitglieder gibt ist wohl kaum Schuld der Arbeitgeber.

    • @Rudi Hamm:

      Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bedaure es sehr, dass die Gewerkschaften nicht mehr so viel Mitglieder haben wie früher.

  • Vielleicht will der Staat gar nicht mehr Geld einnehmen (Herr Lindner, wäre das vielleicht sogar ein fatales Signal, so von wegen „falsche Anreize“?)