Ex-Präsident von Georgien über sein Land: „Niedergang staatlicher Institutionen“
Giorgi Margwelaschwili kritisiert, dass die heutige Regierung sich an Russland orientiert. Deutschland sehe das nicht, und ein EU-Beitritt sei so noch in weiter Ferne.
wochentaz: Wie möchten Sie angesprochen werden?
Giorgi Margwelaschwili: Herr Präsident, Herr Margwelaschwili, Herr Professor – suchen Sie sich aus, was Ihnen am besten gefällt.
Alles klar. Herr Margwelaschwili, die Regierungspartei Georgischer Traum driftet mehr und mehr in Richtung Russland ab. Wie ist das zu erklären?
Zunächst möchte ich an eines erinnern: Als 2013 ein demokratischer Machtwechsel stattfand, waren diejenigen, die sich in der Opposition um den Georgischen Traum zusammengefunden hatten, prowestlich orientiert. Unser Problem war damals nicht der geopolitische Kurs, sondern die Menschenrechtslage unter dem damaligen Präsidenten Michail Saakaschwili. Mit den Jahren hat sich das komplett geändert. Bidzina Iwanischwili (Gründer des Georgischen Traums, gilt als heimlicher Strippenzieher, Anm. d. Red.) hat Leute in die Partei gebracht, die das Land stramm in Richtung Russland führen. Das ist einmal mehr nach dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine deutlich geworden. Warum das passiert ist, ist schwer zu sagen.
Sie wurden 2013 zum Präsidenten gewählt, unterstützt vom Georgischen Traum. Erfreulich war die Zusammenarbeit dann nicht. Wieso?
Iwanischwili meinte mir diktieren zu können, wie ich zu agieren habe. Da war ich anderer Meinung. Nach zwei Monaten war unsere Kommunikation beendet.
Wie würden Sie die heutige Situation in Georgien beschreiben?
Ein Niedergang der staatlichen Institutionen. Probleme mit den Menschenrechten, den Medien. Dazu kommt Korruption. Das ist das russische Modell politischer Führung, das Wladimir Putin seit dem Jahr 2000 entwickelt hat. Dieses Modell läuft dem historischen Willen des georgischen Volkes zuwider.
Ein riesiger Rückschritt also?
54 Jahre, promovierter Philosoph. Ausbildung u.a. an der Staatlichen Uni in Tbilissi und der Central European University in Budapest. 2012/2013 Minister für Bildung, ab Februar 2013 Vize-Premier. Als Präsident setzte sich Margwelaschwili für die LBGTQ+-Community ein. Den Kapitän der georgischen Fußballmannschaft, der mit einer Regenbogenbinde auftrat, unterstützte er mit den Worten: Jeder habe das Recht auf Meinungsfreiheit.
Eine Katastrophe.
Sie haben Michail Saakaschwili bereits erwähnt. Er sitzt seit 2021 in Haft. Wie blicken Sie auf den Fall?
Seit dem ersten Tag war ich immer in Opposition zu Saakaschwili. Aber ich habe ihn in der Haft besucht und sammle Unterschriften, damit er auf freien Fuß kommt, aus gesundheitlichen Gründen. Irgendwie ist das eine Tragödie. Aber blicken wir noch einmal zurück: Wir haben unseren ersten Präsidenten Swiad Gamsachurdia getötet. Sein Nachfolger, Eduard Schewardnadse, war Ziel mehrerer Anschläge. Den dritten Präsidenten bringen wir langsam um, auch durch Folter. Und das wird dann auch noch auf Video aufgenommen. An all diesen Szenarien war Russland beteiligt. Der Fall Saakaschwili, wie der Gamsachurdias, hat die Nation gespalten. Auch das ist katastrophal.
Sie zeichnen ein düsteres Bild. Aber es gibt auch Positives. Proteste haben dieses Jahr verhindert, dass ein geplantes Gesetz über „ausländische Agenten“ in Kraft trat.
Sicher, das ist ein kleiner Sieg. Aber angesichts des russischen Kurses der Regierung bedeutet er nicht viel.
Dennoch gibt es Zivilgesellschaft und Opposition. Wie sollten die vorgehen?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Totale Gegenwehr, und das auf jede erdenkliche Art und Weise. Protestkundgebungen, Auszug der Parteien aus dem Parlament und keinerlei Zusammenarbeit mit der Regierung. Da, wo es um eine Konfrontation mit einem autoritären Regime geht, müssen auch die Formen des Kampfes angemessen sein. Wer allen Ernstes meint, mit ein paar Änderungen am Wahlgesetz und einem schönen Programm für Gesundheitsversorgung und Landwirtschaft hier Wahlen gewinnen zu können, hängt einer Illusion an und hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Er hat bereits verloren, weil er Teil des Spiels, Teil des Systems ist.
Bis Jahresende will sich Brüssel dazu äußern, ob Georgien den EU-Kandidatenstatus erhält. Wie wird die Entscheidung ausfallen?
Ehrlich gesagt, ich verstehe die Kriterien der EU nicht. Wir sollen ein 12-Punkte-Programm umsetzen, aber das ist meilenweit von der Realität der georgischen Politik entfernt. Wie bitte soll die Konfrontation entschärft werden, wenn es politische Gefangene gibt, Medien geschlossen und Politiker auf der Straße geschlagen werden? Das alles hat etwas Surreales. Was den Kandidatenstatus angeht, so weiß ich nicht, was kommt. Doch selbst, wenn man ihn hat, können 15, 16 Jahre vergehen und nichts passiert. Das heißt, es ändert sich de facto nichts.
Deutschland will Georgien zu einem sicheren Herkunftsland erklären. Was halten Sie davon?
Für Touristen ist Georgien sicher, nicht aber für diejenigen, die sich an politischen Prozessen beteiligen wollen. Aber es ist eben leichter, die Augen vor den Realitäten zu verschließen, so wie der Westen das in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich im Falle Wladimir Putins getan hat. Ich fürchte, dass deutsche Diplomaten zu häufig Bidzina-Versteher sind.
Seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine sind viele Russ*innen nach Georgien gekommen. Das stößt einem Großteil der Bevölkerung auf. Eine Gefahr?
Das alles ist eine Farce. Als ob junge Leute, beispielsweise IT-Experten, ein Problem für uns wären. Wir müssen sie aufnehmen. Diese Menschen versuchen, nicht zum Mörder zu werden. Jeder von ihnen hier ist einer weniger an der Front in der Ukraine. Wenn wir die Möglichkeit haben, sind wir moralisch verpflichtet, ihnen Zuflucht zu gewähren. Wer Georgien vor Russland schützen will, sollte lieber direkt zum Regierungsgebäude gehen. Alles andere ist Heuchelei.
Wie wirkt sich der Krieg auf Georgien aus?
Spätestens seit Kriegsbeginn kann die georgische Regierung nicht mehr ihr Gesicht wahren. Gleichzeitig ist die Position der georgischen Gesellschaft eindeutig pro-ukrainisch. Hinzu kommt, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird und Russland schon jetzt beginnt, seine Satelliten zu verlieren. Das wird Georgien Probleme bereiten. Ein Blick nach Armenien genügt. Wir beide haben keine qualifizierten Partner.
Sind Sie wirklich sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnt?
Sie hat ihn bereits gewonnen, das russische System hat nicht funktioniert. Das könnte sich auf Russland genauso auswirken, wie seinerzeit Afghanistan auf die Sowjetunion. Wie lange das alles jedoch noch dauert und wie viele Opfer zu beklagen sein werden, steht auf einem anderen Blatt.
Es gibt eine gewisse Kriegsmüdigkeit. Fürchten Sie, dass die Unterstützung des Westens abnehmen könne?
Natürlich besteht diese Möglichkeit. Aber jede Regierung, die die Ukraine unterstützt, wird dafür verantwortlich sein, dass der Krieg mit einem Sieg für die Ukraine endet. Die Beteiligten werden aus der Nummer nicht herauskommen. Es gibt keine Exit-Strategie.
Haben westlichen Politiker*innen Fehler gemacht?
In den vergangenen 30 Jahren wurden kolossale Fehler gemacht, vor allem in der Beziehung zu Moskau. Nun ja, es gab lukrative Gasangebote, den Start von Nord Stream, europäische Politiker, die Renten von Gazprom beziehen. Aber wo war deren Verantwortlichkeit, als in Moskau Politiker und Journalisten getötet wurden, sie aber Putin die Hand schüttelten und ihn weiter unterstützten? Diejenigen, die nach 2008 (Jahr des Kaukasuskriegs Anm. d. R.) in Georgien sagten, es sei noch unklar, wer den Krieg begonnen habe. Diejenigen, die nach der Besetzung der Krim und des Donbass immer noch mit Putin redeten. Und was ist das Ergebnis? Ein Atomstaat, der versucht, nukleare Spannungen zu erzeugen und einen Teil Europas zu besetzen. Wenn wir diese geopolitischen Realitäten anerkennen und ihnen keinen Einhalt gebieten, wird das so weiter gehen.
In Deutschland bekommen Ex-Präsidenten einen Ehrensold. Kommen Sie über die Runden?
Gamsachurdia, aber auch Schewardnadze haben seinerzeit eine Residenz bekommen. Ich hingegen bekomme vom Staat keine Pension oder sonstigen Leistungen, kurz gesagt: Null.
Wie das?
Bidzina Iwanischwili hat ein entsprechendes Gesetz extra so ändern lassen, dass ich leer ausgehe.
Wovon leben Sie und Ihre Familie?
Ich habe hier ein kleines Ferienhaus gebaut, das ich an Touristen vermiete. Ich habe 60 Buchungen im Jahr. Ich habe hier Pferdetourismus entwickelt und zudem eine Professur an der Universität in Tbilissi. Das erlaubt mir, nicht zu verhungern. Auch frieren müssen meine Familie und ich nicht.
Sie haben einen Sohn mit Behinderung und sind damit immer ganz offen umgegangen. Für ein post-sowjetisches Land keine Selbstverständlichkeit.
Für mich war das eine ganz natürliche Entscheidung. Und die Leute haben sehr positiv darauf reagiert, da kam viel Liebe und Wärme rüber. Mein Sohn Teimur ist jetzt acht und seit Kurzem in der ersten Klasse. Das ist eine öffentliche, wunderbare neue Schule, frisch renoviert. Dort gibt es ausgezeichnete Lehrkräfte und er hat einen zusätzlichen Lehrer, der ihm und anderen Kindern hilft, die Probleme mit der Eingewöhnung haben. Obwohl wir in einer kleinen Stadt leben, würde ich sagen: absolut europäischer Standard.
Denken Sie über eine Rückkehr in die Politik nach?
Ich habe das lange versucht und mit allen Oppositionsparteien gesprochen. Dabei ging es um eine Vereinigung, die Schaffung einer Art dritten Zentrums und die Radikalisierung des Prozesses. Aber ich konnte sie nicht überzeugen. Deshalb beteilige ich mich nicht am politischen Prozess, denn er ist eine Farce. Ich möchte in Iwanischwilis Theaterstück keine Rolle spielen.
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