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Generalstreik im Westjordanland„Die Menschen in Gaza haben Rechte“

Über 50 Menschen sterben bei Angriffen auf ein Flüchtlingslager in Gaza. Aus Protest treten Palästinenser im Westjordanland in den Generalstreik.

Am 1. November suchen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Flüchtlingslager Dschabalia nach Überlebenden Foto: Mohammed Al-Masri/reuters

Es war ein seltener Anblick am Mittwoch auf dem zentralen Al-Manara-Platz in Ramallah: Die sonst Tag und Nacht belebten Straßen waren wie leer gefegt, Geschäfte und Restaurants hatten geschlossen. Die regierende Fatah-Partei hatte für Mittwoch zum Generalstreik im gesamten Westjordanland aufgerufen. Anlass war nicht nur der Krieg in Gaza, sondern auch die zunehmende Gewalt im Westjordanland.

Auf dem Kreisverkehr neben den berühmten Löwenstatuen im Zentrum Ramallahs, der De-facto-Hauptstadt des Westjordanlands, steht bereits um 10 Uhr eine Gruppe Jugendlicher, junge Frauen und Männer, gekleidet in schwarz-weiße Kufijas. Sie protestieren gegen die israelischen Luftangriffe auf Gaza. „Wir wollen, dass das, was in Gaza passiert, aufhört. Das ist das Einzige, was wir im Augenblick tun können“, sagt eine junge Frau der taz.

Kurze Zeit später zieht ein weiterer Protestzug durch die Stadt, diesmal sind auch Frauen und Familien mit Kindern dabei. Sie schwenken Hamas-Flaggen, rufen „Allahu Akbar“ (Allah ist der Größte), „Freies Palästina“ sowie Kampfaufrufe.

Nahezu zur selben Zeit protestiert eine Delegation verschiedener Organisationen und Parteien vor dem Büro des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Auch sie verlangen einen Stopp der Luftangriffe und fordern den Internationalen Strafgerichtshof zum Handeln auf. „Auch die Menschen in Gaza haben Rechte“, sagt ein Priester der melkitischen Kirche. „Ein paar Lkws (mit Hilfsgütern, d. Red.) pro Tag werden das Problem nicht lösen. Das grundlegende Problem ist die Besatzung“, fügt Menschenrechts­aktivist Issam Aruri hinzu.

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Seit Wochen demonstrieren täglich Menschen in Ramallah, auch Streiks gab es bereits. Durch schwere Luftangriffe auf das dichtbesiedelte Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des Gazastreifens am Dienstag war die Lage am Mittwoch aber angespannter als zuvor. Bei dem Angriff waren nach Angaben der israelischen Armee etwa 50 Menschen getötet worden, darunter auch ein Hamas-Führer. Der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa zufolge könnten einige Hundert Menschen verletzt worden sein. Die Hamas gab an, bei den israelischen Angriffen seien auch sieben Geiseln aus Israel ums Leben gekommen.

Am 7. Oktober hatte die radikalislamistische Hamas israelische Dörfer und Städte überfallen, etwa 1.400 Israelis getötet und mehr als 240 entführt. Daraufhin führte die israelische Armee Luftschläge auf Ziele im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen durch. Dabei tötete sie nach Hamas-Angaben mehr als 8.700 Menschen in Gaza, davon etwa 40 Prozent Kinder.

Gewalt in Gaza und im Westjordanland intensiviert

Seit dem Terrorangriff der Hamas nimmt auch im Westjordanland die Gewalt zu. Durch Konfrontationen mit israelischen Streitkräften und Siedlern sind laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium seit dem 7. Oktober mindestens 125 Menschen ums Leben gekommen.

Am Mittwoch gab es laut Wafa erneut Zwischenfälle: Israelische Siedler eröffneten demnach das Feuer auf Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in einem Dorf südlich von Nablus. Bei Razzien des israelischen Militärs im nordwestlichen Dorf Tulkarem wurde ein behinderter Mann erschossen, drei weitere wurden bei Auseinandersetzungen in Dschenin getötet.

Am Mittwoch gingen die Luftangriffe auf den Gazastreifen weiter, laut al-Dschasira griff Israel auch erneut das Flüchtlingslager Dschabalia an. Dabei sollen laut Hamas dutzende Menschen getötet oder verletzt worden sein. In etlichen Städten in Israel heulten am Mittwoch die Sirenen, nachdem aus dem Gazastreifen erneut Raketen auf das Land abgeschossen wurden. Nach israelischen Angaben vom Mittwoch wurden am Vortag elf israelische Soldaten bei „erbitterten Kämpfen“ mit der Hamas „tief im Gazastreifen“ getötet. Die Zahl der getöteten israelischen Soldaten seit Beginn des Krieges stieg damit auf insgesamt 326.

Evakuierung von Verletzten

Die israelische Armee hatte in den vergangenen Tagen ihre Bodenoffensive in dem Küstenstreifen intensiviert. „Unsere bedeutenden Erfolge bei den heftigen Kämpfen fordern zu unserem Leidwesen einen hohen Tribut“, erklärte Israels Verteidigungsminister Joav Gallant.

Unterdessen hat ein Deal zwischen der Hamas, Israel und Ägypten ermöglicht, dass erstmals verletzte Palästinenser sowie Inhaber ausländischer Pässe über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten ausreisen konnten. In Krankenwagen wurden einige Dutzend Menschen nach Ägypten gebracht.

Die Abmachung sieht vor, dass weitere Personen in kritischem Zustand oder mit ausländischer Staatsangehörigkeit aus Gaza evakuiert werden. Wie viele und wann, war am Mittwochnachmittag noch unklar. Der Ägyptische Rote Halbmond bestätigte der Deutschen Presse-Agentur am Mittwochnachmittag die Einreise von 285 Personen. Unter den Ausländern im Gazastreifen sind auch mehrere hundert deutsche Staatsbürger.

Erneut Internetausfälle in Gaza

Aus Gaza wurden am Mittwoch erneut Internetausfälle gemeldet, auch die Telefonverbindungen waren stundenlang gekappt. Menschen konnten ihre Angehörigen nicht erreichen, NGOs beklagen, dass die Ausfälle ihre Arbeit behindern. Insgesamt ist laut internationalen Organisationen sogar die Verteilung von Hilfsgütern aufgrund von zerbombten Straßen und Benzinknappheit schwer. Die durchschnittlichen 14 Lkws mit Hilfsgütern, die inzwischen jeden Tag den Grenzübergang passieren, seien zudem viel zu wenig für eine Bevölkerung von 2,3 Millionen Menschen, die unter Lebensmittelknappheit leide.

Arabische Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien verurteilten den Angriff auf das Flüchtlingslager Dschabalia am Mittwoch. Jordanien zog seinen Botschafter aus Israel ab. Das südamerikanische Land Bolivien kündigte an, die diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen.

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18 Kommentare

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  • Generalstreik, das ist gut und richtig. Respekt! Da hab ich auch schon ganz andere Reaktionen gesehen.

  • Was mich irritiert, ist, dass bei Dschabalia immer von "Flüchtlingslager" gesprochen wird. Das erzeugt Bilder von Zelten, kürzlich vertriebenen Menschen und ohnehin schon großer Not.

    Es ist aber anders: Offenbar war Dschabalia vor 70 Jahren mal ein Flüchtlingslager; mittlerweile stehen da aber keine Zelte mehr, sondern Häuser. Es halndelt sich also um einen Stadtteil von Gaza-Stadt.

    In diesem Stadtteil hat die Hamas offenbar viele militärische Anlagen gebaut, die jetzt angegriffen werden. Da die Anlagen unterirdisch liegen, geht das nicht, ohne Häuser zu zerstören.

    Israel fordert die Bevölkerung seit zwei Wochen auf, in den Südteil des Gazastreifens zu gehen, was ein Weg von 10-15 Kilometer ist. Die Zivilisten, die sich jetzt noch in Dschabalie befinden, werden von der Hamas als menschliche Schutzschilde benutzt.

    Wie sieht es also vor diesem Hintergrund mit der Schuldfrage aus?

    • @Breitmaulfrosch:

      "Häuser zerstören"

      Bombardierungen gehen nicht deswegen in die Geschichte ein, weil Häuser zerstört werden, sondern weil Menschenleben zerstört werden.

  • Es wäre vielleicht hilfreich, wenn auch gegen die schrecklichen Terrorakte der gewählten Vertreter des Gazastreifens Proteste und Streikaktionen laufen würden.

    • @Ward Ed:

      Es gibt keine "gewählten Vertreter des Gazastreifens".

      • @Ajuga:

        Ich fürchte schon. Die Palästinenser im Gazastreifen haben durch Wahlen ihre politischen Vertreter gewählt. Und die drehen gerade mächtig am Rad.

  • Wenn wir nach den Ursachen für Hamas-Terror und Antisemitismus fragen, kommen wir nicht umhin, auch auf die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik zu schauen. Dem muss sich auch die israelische Politik und Zivilgesellschaft zuwenden, sonst sehe ich keine Chance, dass der dringend notwendige Friedensprozess wieder aufgenommen werden kann.



    Nicht nur in der Bekämpfung der Hamas, auch mit Blick auf die erforderlichen innenpolitischen Auseinandersetzungen sehe ich also harte Zeiten auf Israel, auf die Kräfte, die Demokratie und Ausgleich mit den Palästinensern anstreben, zukommen. DABEI benötigt Israel vor allem unsere Solidarität.

    • @Abdurchdiemitte:

      Moshe Zimmermann hat es ja erst gestern klipp und klar gesagt: "... die Hamas ist kein Partner für irgendeine Regelung. Es wäre suizidal, mit einer Organisation zu einem Arrangement zu kommen, die zum Ziel hat, die andere Seite zu vernichten ... taz.de/Moshe-Zimme...st-Krieg/!5966884/

      Mal abgesehen davon, dass das von der Hamas beherrschte Gaza nicht besetzt ist und es dort keine israelischen Siedler gibt: Sie verkennen die ideologischen Grundlagen der Hamas. Diese ist aus der islamistischen Muslimbruderschaft hervorgegangen und der Antisemitismus ist Kernbestand ihrer Ideologie. Diesen hat ihr Vordenker Sayyid Qutb bereits 1950 in "Unser Kampf mit den Juden" formuliert, teilweise unter Rückgriff auf das antisemitische Machwerk der "Protokolle der Weisen von Zion". Qutb Antisemitismus speist sich aus seiner Ablehnung der Moderne, die er für ein Werk der Juden hält. Nachzulesen etwa bei Matthias Künzel, Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand, Berlin/Leipzig 2019.

      Ihr Post suggeriert, Israel müsse nur die 1967 besetzten Gebiete räumen, und dann wäre eine Friedenslösung quasi zum Greifen nahe. Es gibt aber, und das wissen auch die Israelis, nicht wenige Palästinenser, die eine Koexistenz mit einem jüdischen Staat radikal ablehnen. Und der muslimische Antisemitismus in Deutschland richtet sich unterschiedslos gegen alle Juden, seien diese Israelis oder Deutsche, Kritiker oder Anhänger der israelischen Siedlungspolitik.

      • @Schalamow:

        "Ihr Post suggeriert, Israel müsse nur die 1967 besetzten Gebiete räumen, und dann wäre eine Friedenslösung quasi zum Greifen nahe."

        Dass Israel die illegalen Siedlungen im Westjordanland seinerzeit bei den Verhandlungen zwischen Arafat und Rabin nicht frei geben wollte, war ein mit ein Grund dafür, dass die Friedensverhandlungen scheiterten. de.wikipedia.org/w...mp_David_II#Gebiet

      • @Schalamow:

        Nicht umsonst habe ich von Hamas-Terror gesprochen und - in einem früheren Post - davon, dass und warum die Hamas kein Verhandlungspartner sein kann. Über die menschenverachtende islamistische und antisemitische Ideologie der Hamas müssen Sie mich auch nicht erst aufklären.



        Der Felsbrocken, der seit dem Scheitern des Oslo-Prozesses den Berg runter gerollt ist, kann nicht an einem einzigen Tag wieder herauf gerollt werden. Das ist mir auch klar. Aber der 7. Oktober ist ja auch ein Fanal dafür, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Auch nicht mit der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik im Westjordanland.



        Unsere grundlegenden Meinungsunterschiede (bei manchen Übereinstimmungen, ich habe Ihre Kommentare zum Thema jedenfalls gründlich gelesen) bestehen darin, dass es aus Ihrer Sicht offenbar schon falsch war, den Friedensprozess in Nahost überhaupt erst angestoßen zu haben. Denn der arabische/islamische Antisemitismus ist ja unausrottbar und den Palästinensern grundsätzlich nicht zu trauen. Zu dem Schluss muss ich jedenfalls kommen, wenn ich Ihre Beiträge lese.



        Nur, wenn Ihre Haltung zutreffend wäre, wären auch um Ausgleich zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn verdiente Staatsmänner wie Anwar as-Sadat oder Jitzchak Rabin völlig umsonst gestorben.



        Aber es ist ohnehin ein erstaunliches Phänomen, dass wir beide uns auf Moshe Zimmermann berufen können, um unsere unterschiedlichen Standpunkte zu begründen.😉

        • @Abdurchdiemitte:

          Nein, da haben Sie mich in mehrfacher Hinsicht missverstanden, auch wenn Sie möglicherweise zur Verdeutlichung meine Position absichtlich etwas zugespitzt haben sollten.

          Einen Friedensprozeß im Nahen Osten anzustoßen kann niemals "falsch" sein. Mein Skeptizismus, auch mein Pessimismus hat andere Gründe. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Friedens- und Aussöhnungprozeß nur von Dauer sein kann, wenn er von den beiden beteiligten Zivilgesellschaften mitgetragen wird. Denn ohne massive Konzessionen auf beiden Seiten ist ein solcher Frieden nicht zu haben. Für die Israelis bedeutet dies der Rückzug der Siedler von der Westbank, und für die Palästinenser die Einsicht, dass es eine Rückkehr in jene Gebiete nicht geben wird, die israelisches Staatsterritorium sind.

          Die politischen Kräfte, die in Israel für einen Ausgleich mit den Palästinensern eintreten, sind dort seit Jahren in der Defensive. Ob sich dies auf absehbare Zeit ändern wird, kann ich nicht abschätzen. Aber immerhin gibt es solche Kräfte, und sie kommen in Israel auch zur Wort. Und genau hier sehe ich den entscheidenden Unterschied zur palästinensischen Seite. Dort sehe ich wirklich niemanden, der bspw. die simple Wahrheit ausspricht, dass die endlosen Terroranschläge die Lage der Palästinenser um keinen Deut verbessert, sondern allenfalls die Hardliner auf der Gegenseite gestärkt haben. Was es schlicht nicht gibt, ist ein paläst. Pendant zur israel. Friedensbewegung. Ich wüßte im Moment nicht einmal, wer eigentlich der Ansprechpartner sein soll. Das korrupte und letztlich schwache Abbas-Regime, das ausschließlich um seine eigene Macht besorgt ist?

          Vor allem weiß ich bis heute nicht, wieviele Palästinenser überhaupt einen Ausgleich mit Israel wollen. Sicherlich gibt es diese, aber wo sind sie und sind sie mehr als eine verschwindende Minderheit?

          Jedenfalls sehe ich mich nicht in der Situation, ausgerechnet nach dem 7.10. israelische Friedensinitiativen anzumahnen.

          • @Schalamow:

            Fortsetzung.



            Damit wäre das Dilemma auf israelischer Seite beschrieben. Im Grunde gibt es einen unausgesprochenen Konflikt innerhalb der jüdischen Gesellschaft zwischen Säkularen und den rechten Kräften, der nicht aufgelöst werden kann, so lange die für Israel und die Juden weltweit existenziell bedrohende Gefahr von außen weiter besteht - mit der Besatzung des Westjordanlandes hat Israel sich diese äußere Bedrohung im Grunde sozusagen selbst „einverleibt“ (und müsste sich demzufolge schleunigst davon trennen) - und der Zionismus der ideologische „Kitt“ ist, der die auseinander driftende israelische Gesellschaft zusammenhält. (Damit teilt Israel bei genauer Betrachtung jedoch nur das Schicksal aller westlichen, liberalen Demokratien, die sich global in einem Rückzugsgefecht gegen totalitäre, fundamentalistische und faschistische Regimes befinden … und die Gefahr droht nicht bloß von aussen!)



            Nicht umsonst hat Israel (bzw. haben zionistische Juden) so seine Probleme mit zionismus-kritischen jüdischen Intellektuellen wie Hannah Arendt oder aktuell in der Kontroverse um Deborah Feldmann.



            taz.de/Buch-ueber-...entitaet/!5960158/



            www.juedische-allg...ultur/toxisch/?amp



            www.n-tv.de/politi...ticle24503821.html

            • @Abdurchdiemitte:

              Ich stimme Ihrer Analyse fast durchweg zu (deswegen können wir uns ja beide auf Moshe Zimmermann berufen ;-)).

              Zwei Punkte sehe ich anders. Der Vergleich mit IRA und ANC und den entsprechenden Friedensprozessen ist insofern nicht recht überzeugend, weil beide nie systematisch Zivilisten ermordet haben - das sieht bei den diversen palästinensischen Organisationen anders aus und setzt die Schwelle zu Friedensverhandlungen noch einmal höher.

              Mit dem Begriff "zionismus-kritisch" kann ich wenig anfangen. Zionismus ist ja zunächst einmal eine Bewegung für die Errichtung eines jüdischen Staates; der ist nun mal Tatsache, und so weit ich sehe, möchte ihn die überwältigende Mehrheit der Juden inner- und außerhalb Israels auch erhalten. Anders sieht es mit den Vorstellungen eines Eretz Israel aus, die ja wohl von der Mehrheit linker und liberaler Juden abgelehnt wird. Wie Frau Feldman nun genau zum Zionismus steht, habe ich den von Ihnen verlinkten Beiträgen nicht so recht entnehmen können. Ihre Äußerungen bei Lanz (ich habe die Sendung nicht gesehen) fand ich jetzt nicht wirklich konsistent; da nehme ich eindeutig die Position von Habeck ein.

              Was bei Ihnen nicht vorkommt, ist das Thema Sicherheit. Wenn ich Ihre Position richtig verstanden habe, soll Israel auf einen Gegenschlag verzichten. Aber um was genau zu erreichen? Sowohl bei Zimmermann wie auch bei Meron Mendel www.juedische-allg...d-kaelte/?q=Mendel ist der Schock über den 7.10. unüberhörbar (auch die Enttäuschung über die Linke in Deutschland). Beide sind, wie Sie wissen, massive Kritiker Netanjahus und Befürworter eines Ausgleichs mit den Palästinensern. Aber Mendel hat es für meine Begriffe auf den Punkt gebracht: "Alle Menschen, die irgendwie an eine Lösung des Konfliktes glauben, will die Hamas mit ihren Taten davon abbringen. (...) Politisch bedeutet das, dass es keine friedliche Lösung für die Region geben wird, solange die Hamas in Gaza ist."

              • @Schalamow:

                Selbstverständlich habe ich die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürger im Blick. Das muss man auch stets, wenn man die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik kritisiert. Ich habe aber immer argumentiert, dass die Besatzung der Westbanks a) der israelischen Demokratie wie ein Mühlstein um den Hals hängt und b) erst recht die Sicherheit Israels als Staat gefährdet.



                Die jüdischen Siedlernationalisten, die in den Westbanks die Eskalation mit der palästinensischen Bevölkerung auf die Spitze treiben, sind an beidem nicht interessiert, nicht an Demokratie und such nicht an der Sicherheit Israels.



                Ihre Regierung unter Netanyahu übrigens auch nicht. Es passt schlicht nicht in ihr ideologisches Konzept von Eretz Israel und sie haben andere Pläne, was die Lösung der Probleme mit den Palästinensern betrifft. Vielleicht ist der Krieg in Gaza jetzt für die israelische Rechte nur ein “Testlauf” für die Umsetzung dieser Pläne. Ich hoffe inständig, dass es nicht so ist, aber genau deshalb bleibt es wichtig, dass die Weltöffentlichkeit weiter genau hinschaut.



                Wenn wir uns in dieser Einschätzung einig sind, wären wir wir schon ein gutes Stück weiter (aber wir sitzen auch nicht am Verhandlungstisch, um das Schicksal Israels und der Palästinenser zu beraten). Und also liegt Frau Poppe richtig, wenn sie fordert, beide Seiten müssten ihre Führungen austauschen.



                Ein Satz noch zu den Begrifflichkeiten, mit denen im Diskurs immer lustig-munter jongliert wird: ich nutze den Begriff “Zionismus-Kritik” (auch “Israel-Kritik”), gerade um ihn von einem agitatorischen Antizionismus abzugrenzen, der in der Tat schnell in iaraelbezogenen Antisemitismus umschlagen kann. Die Gefahr sehe ich durchaus und wir erleben es dieser Tage. Das müssen Sie mir so abnehmen oder Sie lassen es halt bleiben.



                Nicht zuletzt deshalb greife ich ja auch auf die Antisemitismus-Definition der JDA zurück, die mir wesentlich sinnvoller erscheint - weil nicht “ideologiebeladen” - als die der IHRA.

            • @Abdurchdiemitte:

              "Damit wäre das Dilemma auf israelischer Seite beschrieben. Im Grunde gibt es einen unausgesprochenen Konflikt innerhalb der jüdischen Gesellschaft zwischen Säkularen und den rechten Kräften, der nicht aufgelöst werden kann,"

              Nationalismus, in Israel ist es der Zionismus, ist nicht an eine Religion gebunden. Es gibt viele religiöse, besonders orhodoxe Juden, die diesen Nationalismus ablehnen. de.wikipedia.org/w...rthodoxes_Judentum

              • @Rudolf Fissner:

                Das stimmt natürlich, ich habe es falsch formuliert. Richtiger wäre es wohl, von zwei Konflikten innerhalb der israelischen Gesellschaft auszugehen: den zwischen Säkularen und Religiösen und den zwischen Linken und Liberalen auf der einen und Rechten auf der anderen Seite.



                Nicht zu vergessen, dass es im ultraorthodoxen jüdischen Spektrum auch Gruppierungen gibt, die dem säkularen und zionistischen Staat Israel extrem feindselig gegenüberstehen. Dann aber auch strenggläubige orthodoxe Juden, die sich fest mit der siedlernationalistischen Bewegung verbunden haben.



                Aber auch nicht alle jüdischen Siedler im Westjordanland dürfen als rechtsextremistisch betrachtet werden. Es ist also kompliziert.

          • @Schalamow:

            Immerhin können wir hier sachlich, ohne grosss Polemik miteinander diskutieren. Das ist doch schon was.



            Wenn Sie argumentieren, auf palästinensischer Seite fehle ein Ansprechpartner für die Wiederaufnahme des Verhandlungsprozesses (denn darin geht es: erst einmal wieder auf Augenhöhe miteinander zu reden, auch wenn eine Lösung des Konfliktes noch in weiter Ferne steht), ist das ja nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig.



            Es gibt die PA und Abbas, wenn auch in einer denkbar geschwächten Position. Besser wäre es freilich, Abbas würde endlich abtreten und in Fatah und PA einer jüngeren Generation das Ruder überlassen. Jedoch genau da liegt das Problem, denn die Jüngeren unter den Palästinensern haben sich weiter radikalisiert und sind noch weniger kompromissbereit als ihre Vorgängergeneration. Fast sieht es so aus, als ob Fatah der Hamas hinterherlaufen würde und in einen extremistischen, antisemitischen Überbietungswettbewerb eingetreten sei. In dieser Hinsicht kann ich Ihren Skeptizismus leider nicht entkräften.



            Aber zwei Punkte dazu: erstens musste schließlich im Nordirland-Konflikt GB mit der IRA verhandeln (über den „Umweg“ Sinn Fein), in Südafrika De Klerk seinerzeit mit Mandela und dem ANC. Und ich bin fest davon überzeugt, dass eine türkische Regierung eines Tages auch mit der PKK am Verhandlungstisch sitzen wird (sehr wahrscheinlich nicht direkt, sondern über eine parlamentarische Vertretung wie die pro-kurdische HDP). Palästina hat mit der PA schon die Institution für Gespräche mit Israel, nur leider keinen Mandela. Das ist das eine Dilemma.



            Zweitens: analysiert man Israels Verhandlungsbereit, lässt sich feststellen, dass dort erhebliche politische Zentrifugalkräfte am Werk sind. Das, linke und liberale Spektrum und ein kompromissloses, ultraorthodoxes (nicht alle Religiösen!), nationalistisches bis rechtsextremistischen. (Beide Strömungen können sich paradoxerweise auf den Zionismus berufen, um ihre Positionen zu legitimieren.)

  • Kleiner Hinweis: Tulkarem ist kein Dorf, sondern eine Stadt mit ca. 60 000 Einwohnern.