Sakis Terzidis steht auf dem verwüsteten Gelände mit dem verbrannten Ziegenstall, sein Hund frisst

Sakis Terzidis besucht seinen verbrannten Ziegenstall und füttert seinen Schäferhund, der alleine dort verblieben ist Foto: Ferry Batzoglou

Waldbrände in Griechenland:Brandstiftung von rechts

In der Region Evros an der Grenze zur Türkei machen Einheimische Migranten für das Feuer verantwortlich – und greifen teilweise zur Selbstjustiz.

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Aus evros, 20.9.2023, 13:49  Uhr

Sakis Terzidis, 52, Fünftagebart, drahtig, Tarnhose, Kappe mit geradem Schirm, hält seinen alten Traktor nach einer Viertelstunde kräftig durchrüttelnder Fahrt auf einer Anhöhe an. Terzidis steigt aus und zeigt auf einen verbrannten Acker in der Ebene. Der Acker sei schon beim ersten großen Feuer im Südevros verbrannt, erklärt er. Am 19. August, einem Samstag, habe die Feuersbrunst im zehn Kilometer entfernten Ort Melia begonnen. Angefacht von starken Winden habe sich das Melia-Feuer mit rasender Geschwindigkeit nach Westen ausgebreitet. Die Feuerwalze hinterließ eine Schneise der Verwüstung.

Plötzlich, am 23. August, sei mitten auf dem Acker ein Auto gestanden. „Ich habe es von Weitem gesehen. Was hatte es da zu suchen? Ausgerechnet auf einem verbrannten Acker, dazu in der Siesta, um Viertel vor drei“, sagt Sakis Terzidis. In unmittelbarer Nähe von dem Acker mit dem geparkten Auto darauf, so Terzidis weiter, sei ein neues Feuer ausgebrochen. Dieses lokale Feuer habe Kermes-Eichen erfasst, die das große Melia-Feuer verschont hatte. Rasch seien zwei Löschflugzeuge abgehoben, ferner ein Hubschrauber. Wie schon beim Melia-Feuer hätten sie zwar abermals verhindert, dass das Feuer den nahe gelegenen Ort Agnadia erreicht. Was sie nicht retten konnten: Sakis Terzidis’ Ziegenstall.

Für ihn ist klar, wie das zweite Feuer, das seine Existenz ruinierte, ausbrach. „Das war Brandstiftung“, sagt er lapidar. „In den allermeisten Fällen sind das Lathrometanastes. Wer sonst?“ Schon seine Wortwahl ist eine Wertung. „Lathrometanastes“ sind Migranten, die „lathrea“, „geschmuggelt“, über die nahe Türkei nach Griechenland kommen. So als ob es sich um Schmugglerware wie Schnaps oder Zigaretten handelte, nicht um Menschen.

Dass unbedarfte Migranten im Freien ein Feuer zum Kochen oder Aufwärmen machen und so fahrlässig einen Brand auslösen, hält er für abwegig. „Die haben doch nur Kekse oder so etwas dabei. Kocht man Kekse?“ Dass Migranten Brandstifter sind, ist Sakis Terzidis’ Narrativ. Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Immer mehr Menschen in der Region Evros hetzen gegen Migranten und beschuldigen sie der Brandstiftung. Für die Migranten ist die Region nur eine Zwischenstation ihrer Route. Viele wollen weiter nach Deutschland. Einheimische halten sie bei ihrer Flucht auf, nehmen sie eigenhändig fest und übergeben sie dann an die Polizei. Es ist eine neue Eskalationsstufe in der Migrationsfrage.

Terzidis startet wieder seinen Traktor. Nach einer weiteren Viertelstunde Fahrt durch eine verbrannte Landschaft ist sein Ziegenstall auf der Rückseite des Hügels erreicht. Die Szenerie ist gespenstisch. Zuletzt hatte er zwanzig Ziegen, die er alleine versorgte. Ein mühsamer Job. Seine Tiere rettete er früh, als der erste große Waldbrand, das Melia-Feuer, in der Region tobte. Er brachte das Vieh in den Hof seines Hauses in Agnadia. Als er seinen zerstörten Ziegenstall das erste Mal sah, musste er heulen. „Das war mein Leben“, seufzt er.

Christos Kapnas, Servicekraft

„In den letzten drei, vier Jahren habe ich etwa fünfhundert Mal Migranten festgenommen. Fasst mich jemand an, werfe ich ihn sofort auf den Boden“

Christos Kapnas, 26, stechender Blick, athletischer Typ, drückt einem so kräftig die Hand, dass es fast weh tut. Er diente bei den Gebirgsjägern der griechischen Streitkräfte. Kapnas wohnt im 431-Seelen-Ort Doriskos im Südevros, nur ein paar Autominuten von der türkischen Grenze entfernt. Im Sommer jobbt er in der Gastronomie, ab September ist er arbeitslos. Untätig ist er nicht. Christos Kapnas nimmt Migranten fest. Auf offener Straße, auf Feldern, in Wäldern, in von Migranten vorübergehend bewohnten Häusern. Überall. Gezielt. Konsequent.

Laut Kapnas treten die Lathrometanastes in Gruppen auf. Fünf, zehn oder zwanzig Leute. Meist sind das jüngere Männer. Nach dem Übertreten der Grenze schmeißen sie ihre Pässe weg. „Ich weiß, wo ihre Routen verlaufen. Ich halte sie an, frage sie nach ihren Namen, nach Papieren. Haben sie keine Papiere, fordere ich sie mit energischer Stimme dazu auf, stehen zu bleiben. Ich trage keine Waffe. Eine klare Ansage reicht, um ihnen Angst einzujagen: ‚Ich diskutiere nicht mit euch!‘ Sie fügen sich, fallen auf die Knie – und die Sache ist vorbei. Ich rufe die Polizei.“

Nur selten leiste jemand Widerstand, so Kapnas. „Vielleicht versucht einer, mit einem ins Gespräch zu kommen, zu verhandeln. Fasst mich jemand an, werfe ich ihn sofort auf den Boden und fessele ihn.“ Womit? „Mit den Schnürsenkeln seiner Schuhe.“ Die Ordnungshüter kennen ihn. Nach zehn, fünfzehn Minuten komme die Polizei und nehme die Migranten mit, sagt Kapnas. Ob sie sie auf die Polizeiwache brächten oder in die Türkei zurückdrängen würden, wisse er nicht.“ Wie oft er Migranten festgenommen habe? “In den letzten drei, vier Jahren etwa fünfhundert Mal“.

Flüchtlinge aus Kriegsgebieten würde er akzeptieren, fügt er hinzu, aber „nicht aus Ländern, in denen kein Krieg herrscht“. Er findet, dass Menschen, die illegal über die Grenze kommen, sich der Polizei stellen sollen. Andere Leute in seinem Dorf seien ebenfalls „selbsternannte Sheriffs“, so Kapnas. Sie seien in seinem Alter, es gebe jüngere und viel ältere. „Diejenigen, die das nicht gut finden, beschimpfen uns als Faschisten oder Rassisten. Ich kann dazu nur sagen: Ich bin lieber ein Faschist als ein Idiot.“

Blöd findet die Polizei Kapnas und Co offenkundig nicht. Gemeinsam würden sie im Evros pa­trouillieren – auf der Suche nach Migranten. „Die Polizei vertraut uns“, sagt Kapnas. Von den Politikern fühlt er sich im Stich gelassen. Der Spartaner Leonidas habe mit nur 300 Soldaten die übermächtigen Perser bekämpft, hebt er hervor. „Was tun heute die 300 Abgeordneten in Athen?“, frage er sich. Er gibt die Antwort. „Sie ist nicht druckfähig.“

Kapnas hat rote Linien. Verwerflich sei, was ein anderer „selbsternannter Sheriff“ am 22. August, auf dem Höhepunkt des Feuers im Südevros im Ort Nea Chili tat. In einem Video im Internet sagt ein griechisch sprechender Mann, er habe Migranten „eingesammelt“. „Ich habe ‚25 Stück‘ geladen“, gemeint sind Migranten, wobei er auf einen Autoanhänger zeigt. „Sie werden uns verbrennen. Sie werden uns verbrennen!“, ätzt er und öffnet die Tür. Im Innenraum sind einige Migranten zu sehen.

„Der ganze Berg ist voll von ihnen“, poltert er hernach, um zu einem Pogrom aufzurufen. „Organisiert euch, um sie zusammenzutreiben!“, ruft er in seiner Tirade. Derweil ist bekannt, dass der Fahrzeugbesitzer, ein Albaner, seit mehr als dreißig Jahren im Evros lebt. Auf dem Video zieht er einen Anhänger, in dem 13 illegale Einwanderer syrischer und pakistanischer Herkunft festgehalten werden. Zwei Griechen haben ihm mutmaßlich geholfen. „Alle Migranten sind Brandstifter!“ Das ist das Narrativ des Entführer-Trios.

Kapnas verurteilt ihr Vorgehen. „Migranten sind auch nur Menschen. Sie sind kein Müll, den man in einen Anhänger steckt.“ Sein Motto bleibe: „Ruf die Polizei an! Dreh kein Video!“ Sind die Migranten Brandstifter?“ „Das ist ein schwerer Vorwurf“, räumt Kapnas ein. Dass es im Evros so viele Brandherde gegeben habe, könne aber kein Zufall sein. Vorsätzlich einen Brand zu legen, könne nur in Absprache geschehen, unterstreicht er. Selbst wenn dies nur wenige Migranten betreffe: „Einen Schatten wirft das auf alle.“ Das ist Christos Kapnas’ Narrativ.

Die Region Evros in Griechenlands äußerstem Nordosten ist nach dem gleichnamigen Fluss benannt (Türkisch: Meric) und bildet in Nord-Süd-Richtung in weiten Abschnitten die gut 200 Kilometer lange Festlandgrenze zur Türkei. Ab dem 19. August brannte die Region Evros. Zuerst wütete das Melia-Feuer im Südevros. Dass das Feuer in Melia nach einem Blitzeinschlag ausbrach, gilt als gesichert, wie offizielle Quellen bestätigen.

Christos Kapnas steht mit verschränkten Armen und entschlossenem Blick vor einer verbrannten Fläche

Im Sommer jobbt Christos Kapnas in der Gastronomie, den Rest des Jahres ist er arbeitslos Foto: Ferry Batzoglou

Ab dem 21. August brach im Dadia-Nationalpark in Zentralevros ein weiteres Großfeuer aus. War auch hier ein Blitzeinschlag die Brandursache? Oder Brandstiftung? Die Ermittlungen laufen, Ergebnisse gibt es bisher keine. Es ist eine schwierige Suche, wie ein Feuer seinen Anfang nimmt. Vermutungen, Spekulationen, Vorwürfen und Bezichtigungen sind Tür und Tor geöffnet.

Beide Großfeuer im Evros vereinten sich zu einem Megafeuer. In knapp drei Wochen fielen im Evros über 93.500 Hektar Land den Feuern zum Opfer. Das entspricht einer Fläche größer als die von Berlin. Das Evros-Feuer ist der größte Waldbrand in der EU seit Beginn der Aufzeichnungen. Der ökologische und ökonomische Schaden in der dünnbesiedelten, strukturschwachen Region Evros ist enorm. Demografisch und wirtschaftlich war der Evros schon vor dem Feuer ausgeblutet, nun liegen weite Teile in Schutt und Asche.

Unstrittig ist, dass der Evros schon lange eine Migrantenroute darstellt. Die Migranten wollen hier nur eines: weiter. Ihr Ziel: vor allem Deutschland. Die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis brüstet sich damit, eine restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik zu verfolgen. Griechenland soll eine Festung sein. Laut dem Athener Migrationsministerium wurden in den ersten sieben Monaten dieses Jahres 11.672 illegale Neuankömmlinge registriert, die über die Festland- und Seegrenze nach Griechenland kamen, etwa ein Fünftel in die Region Evros. Dass es wirklich so wenige sind, glaubt im Evros keiner.

So einer ist Georgios Chatzigeorgiou. Besonders sauer sei er auf die skrupellosen Schlepper. Er habe es nicht mehr gewagt, die einzige Autobahn im Evros zu benutzen. Schlepper würden in gestohlenen, mit Migranten vollbesetzten Autos nicht nur mit Karacho durch die Orte im Evros, sondern auch als Geisterfahrer auf der Fernstraße in Richtung Thessaloniki rasen, um der sie jagenden Polizei zu entkommen. Zwei tödliche Unfälle hätten sich zuletzt ereignet, klagt er. „Das Mi­grantenproblem hat schlimme Auswirkungen auf unser Leben“, sagt Chatzigeorgiou. Nach heftigen Protesten der Einwohner kontrolliert die Polizei die Ein- und Ausfahrten der Autobahn. Chatzigeorgiou begrüßt das.

Der 48-Jährige ist Ortsvorsteher im 486-Seelen-Ort Avantas im Südevros. In einem schicken Lokal am Hauptplatz nimmt er einen Schluck vom servierten Erfrischungsgetränk. Das Feuer, das aus Melia kam, habe 80 Prozent der Waldfläche von Avantas vernichtet. Dabei hatte Chatzigeorgiou Avantas als Wanderparadies etabliert. Das sei nun vorbei. „Da, wo alles grün war, ist nur noch Asche.“ Das Feuer in Melia sei „sicher auf einen Blitzeinschlag“ zurückzuführen, sagt er. Mit Blick auf die Ursache des anderen Großfeuers im Dadia-Nationalpark, das weiter nördlich wütete, sei „nichts auszuschließen“, ebenso nicht ein „feindlicher Akt“ der Türkei. Das ist Georgios Chatzigeorgious Narrativ.

Nationalistische ­Positionen gedeihen in der Region, die an die Türkei grenzt. Der Nährboden dafür ist fruchtbar

Ortswechsel in den zentralen Evros, wo das Großfeuer im Dadia-Nationalpark ausbrach. Jannis Dermentzoglou, 68, von Beruf Gerichtsvollzieher, Mitgründer der nationalkonservativen Parlamentspartei Griechische Lösung (Elliniki Lysi/EL) bittet zum Gespräch in sein Wahlkreisbüro im Herzen der Gemeinde Soufli, einen Steinwurf von der Grenze zur Türkei entfernt. „Das war früher die Bäckerei meines Großvaters. Sehen Sie, das ist der Ofen“, sagt er sichtlich stolz.

Das Ambiente lässt keinerlei Fragen offen. Überall hängen Plakate seiner Partei, auf denen das Konterfei des Parteichefs und Sprüche wie „Hellas zuerst! Die Griechen zuerst! Machen wir Griechenland wieder griechisch!“ prangen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Titel „Migranteninvasion und griechische Krise“.

Nirgendwo sonst holt die Griechische Lösung so viele Stimmen wie im Evros, einer traditionell konservativen Region. Bei den jüngsten Parlamentswahlen Ende Juni holte sie hier 8,83 ­Prozent der Stimmen, ein doppelt so hoher Stimmenanteil wie im Rest des Landes. Nationalistische ­Positionen gedeihen in der Grenzregion, der Nährboden dafür ist fruchtbar. Wie das Athener Forschungsinstitut Eteron in einer jüngsten Studie ermittelte, gaben 6,1 Prozent der Griechen an, eine „nationalistische Gesinnung“ zu haben. Bei den EL-Wählern schnellt der Wert auf 24,2 ­Prozent in die Höhe. Ideologisch verankert im Nationalismus sehen sich 3,6 Prozent der Wähler der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia.

Dermentzoglou lästert nicht nur über die Syriza-Regierung, die das Zepter in Athen von 2015 bis Juli 2019 in der Hand hielt. „Mitsotakis ist viel schlimmer“, schimpft er. Plötzlich blickt er wie ein Bluthund: „Tag für Tag kommen 500 bis 1.000 Migranten über den Fluss Evros. Sie gehen in die Berge.“ Der stramme Rechte enthüllt: „In meinem Keller habe ich dreißig weggeworfene Pässe.“ Für ihn ist klar: „Die Schmuggelmigranten legen die Feuer!“ Warum sie das tun? „Dahinter steckt Erdoğan in Rücksprache mit Mitsotakis! Damit der Evros keine Wälder mehr hat und die Türkei einfacher einfallen kann.“ Das ist Jannis Dermentzoglous Narrativ.

Apropos Türkei: Ilias Vintsis, 46, Ortsvorsteher des 409 Einwohner zählenden Orts Dadia, mitten im gleichnamigen Nationalpark, sieht es als „wahrscheinlich“ an, dass hinter dem jüngsten Feuer im Nationalpark die Türkei stecke. Ankara wolle die griechischen Militäranlagen im Evros, wo sich Griechen und Türken bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen, „ohne Wald besser beobachten können“, ist er überzeugt. Das Feuer in Dadia gehe auf „vorsätzliche Brandstiftung“ zurück, ist er sich sicher. Blitzeinschläge? Fehlanzeige. Die Migrantenströme im Wald seien „ein sehr großes Problem“.

Dora Skartsi steht mit den Händen in den Hosentaschen und ernstem Blick auf einem Weg, im Hintergrund sind leichte Rauchschwaden zu erkennen

Dora Skartsi glaubt nicht an vorsätzliche Brandstiftung, sondern eher an fahrlässiges Verhalten Foto: Ferry Batzoglou

Höchstpersönlich sei er im Wald während des Feuers auf Migrantengruppen von zehn oder mehr Leuten gestoßen, obgleich im Nationalpark der Zutritt für jeden schon bei hoher oder akuter Brandgefahr streng verboten ist. „Was haben die Migranten im Wald zu suchen?“, fragt Vintsis rhetorisch. Seine prompte Antwort: „Unter ihnen sind Dschihadisten.“ Sie führen Böses im Schilde. Das ist Ilias Vintsis’ Narrativ.

Säcke, Kleidungsstücke, Plastikverpackungen. Dora Skartsi ärgert sich. „Das ist doch kein Nationalpark mehr!“ Sie muss es wissen. Skartsi, 60, Forstwissenschaftlerin, Vogelkundlerin, Leiterin der Gesellschaft für Biodiversität mit Sitz in Dadia, kennt den Wald so gut wie ihre Westentasche. Ob an Wegen, in Tälern oder auf Hügeln: Hunderte Müllkippen lägen überall verstreut herum. „Dieses Jahr hat das überhand genommen“, klagt Skartsi.

Nicht nur dies sei ein klarer Indikator dafür, dass die Zahl der Migranten, die durch den Wald ziehen oder sich darin tagelang verstecken, um auf den nächsten Schlepper zu warten, merklich zugenommen hat. „Bei Löscheinsätzen mit der Feuerwehr haben wir siebzig Migranten im brennenden Wald gefunden, obwohl sich niemand dort aufhalten sollte.“ Skartsi glaubt nicht daran, dass „die Migranten uns verbrennen wollen“.

Ihre Präsenz im Wald sei jedoch eine weitere reale Gefahr in der langen Liste möglicher Brandursachen. „Aus Fahrlässigkeit, schreiben Sie das bitte in Großbuchstaben“, wie sie betont. Die Migranten kochten im Wald, hätten Gaskartuschen dabei. „Das Risiko ist gewaltig.“ Das dürfe man „nicht unter den Teppich kehren.“ Stellen Sie sich vor, Tausende Bewohner einer Stadt gingen in einen Park, um dort zu picknicken – trotz Brandgefahr!“ Das ist Dora Skartsis Narrativ.

Neue Eskalationsstufe erreicht

Mit dem Narrativ, Flüchtlinge und Migranten als Brandstifter zu bezichtigen, ist für die Rechtsanwälte Aikaterini Georgiadou und Jannis Patzanakidis eine neue Eskalationsstufe in der Migrationsfrage erreicht. „Es begann damit, den Migranten als Invasor zu sehen. Inzwischen ist der Migrant nicht nur der Invasor, sondern auch der Brandstifter, der Griechenland auslöschen will“, sagt Patzanakidis. Gerade ist er mit seiner Kollegin Aikaterini Georgiadou von dem Aufnahmelager für Flüchtlinge und Migranten in Fylakio im Nordevros zurückgekehrt. In einer Herberge in Soufli gewähren sie der taz Einblicke in die Aufsehen erregende Causa der 13 Migranten, die ein Albaner mit der Hilfe zweier Griechen „einsammelte“, in einen Anhänger steckte und per Video zum Pogrom gegen Migranten aufrief, die „uns alle verbrennen wollen“.

Der Fall sei ein Novum. „So etwas ist noch nie passiert“, sagen Georgiadou und Patzanakidis unisono. Das Duo vertritt die acht Syrer und fünf Pakistaner. Ihnen gehe es gut. Zuerst seien die Pakistaner an jenem ominösen 22. August von dem Täter-Trio in den Anhänger gepfercht worden. Erst Stunden später seien die Syrer dazugekommen. Die Täter hätten Frauen und Kinder aussortiert. Triage pur.

Wer in den Anhänger gesteckt wurde, sei in Lebensgefahr geraten. „Sie standen davor, in Ohnmacht zu fallen, zu sterben. Sie konnten in diesem Käfig keine Luft holen“, so Georgiadou. Sie hätten gegen die Wände des Anhängers geschlagen, ohne dass jemand antwortete. „Ein Migrant hat uns gesagt, er habe nichts mehr verstanden, als er nach Stunden aus dem Anhänger steigen durfte“, ergänzt Patzanakidis. „Die Menschen standen unter Schock. Als sie gehört haben, dass ausgerechnet ihre Entführer sie der Brandstiftung bezichtigen, haben sie nur gestaunt.“

zurückgelassene Schuhe, eine Hose und die Reste einer Salamipacken liegen im Schotter am Rande eines Weges im Nationalpark

Zurückgelassene Gegenstände von Migranten im Nationalpark „Dadia“ im Zentrum der Region Evros Foto: Ferry Batzoglou

Die gute Nachricht ist: Das Entführer-Trio kam in Untersuchungshaft, alle 13 Migranten wurden ohne jegliche Auflage freigelassen. Ein erster Erfolg für das smarte Advokaten-Duo Georgiadou und Patzanakidis. Sie lassen nicht locker. Die 13 Migranten wollen Asyl, ferner eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Das griechische Gesetz sieht das vor. Denn sie seien Opfer verbrecherischer Taten mit rassistischem Motiv geworden.

An Premier Mitsotakis lassen die Rechtsanwälte kein gutes Haar. „Um sich der Verantwortung für das Ausmaß der Feuerkatastrophe zu entziehen, nährt Mitsotakis das Narrativ ‚der Migrant, der Brandstifter‘, indem er darauf hinweist, dass die Feuer auf den Migrantenrouten wüten“, sagt Patza­nakidis.

Mitsotakis tue dies, obschon im Wald von Avantas 18 Migranten einen grausamen Tod starben, als das Feuer sie erfasste, kritisiert der Advokat. Ihre verkohlten Leichen wurden am 22. August gefunden. 19 der 20 Brandopfer im Evros sind Flüchtlinge und Migranten. „Hätten wir einen Regierungschef, der eine klare Haltung einnimmt, hätten wir nicht so ein vergiftetes Klima in der Gesellschaft“, hebt Patzanakidis hervor.

Der Advokat weist auf Mitsotakis’ Rede im Athener Parlament hin. Wortgetreu sagte er: „Alle, die (tot) im Wald gefunden wurden, hätten niemals dort sein dürfen. Die Behörden haben einen Notruf gesendet, in zwei Sprachen, auf Griechisch und Englisch. ‚Befehl an alle: sofortige Evakuierung!‘ Wir haben uns womöglich etwas anderes zu fragen: ‚Wer brachte sie dorthin? Was sind das für Nichtregierungsorganisationen, die auf einmal ein Bild (über deren Verbleib) haben?‘ Sind sie womöglich mitverantwortlich dafür, dass sie die Menschen dorthin führen, diese dann (vom Feuer) eingeschlossen sind, nicht evakuiert werden können und so ihr Leben verlieren?“ Das Megafeuer im Evros ist gelöscht. Verbrannte Erde allerorten. Der Kampf der Narrative geht weiter.

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