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Humanitäre Krise in BergkarabachBlockade und Hilfe

Die Verbindungsstraße von Armenien nach Bergkarabach ist weiter blockiert. Hilfe kommt vom russischen Roten Kreuz über Aserbaidschan.

Den Bewohnern in Bergkarabach droht durch die Blockade der Hungertod Foto: Marut Vanyan/dpa

Berlin taz | Der drohende Hungertod von bis zu 120.000 Ar­me­nie­r*in­nen in Bergkarabach könnte vielleicht noch abgewendet werden. Am Dienstag traf ein Hilfstransport des russischen Roten Kreuzes mit Decken, Hygieneartikeln und 1.000 Lebensmittelpaketen in Stepanakert ein, der Hauptstadt der Region.

Dafür wurde erstmals die sogenannte Agdamroute genutzt, die über aserbaidschanisches Territorium verläuft. Sie war seit dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach Anfang der 1990er Jahre geschlossen gewesen. Eine 44-tägige bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den beiden Südkaukasusrepubliken im Herbst 2020 endete für Jerewan mit erheblichen Gebietsverlusten. Seitdem ist auch der Ort Agdam wieder unter der Kontrolle von Aserbaidschan.

Über den Latschinkorridor hingegen geht nach wie vor gar nichts. Der Korridor ist die einzige direkte Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach und eine Lebensader für die Karabach-Armenier*innen. Aber weder Waren noch Hilfsgüter oder dringend benötigte Medikamente kommen durch.

Eine Waffenstillstandsvereinbarung, die 2020 unter der Vermittlung von Moskau ausgehandelt worden war, sieht unter anderem die Stationierung von russischen Friedenstruppen vor. Zu den Aufgaben der rund 2.000 Soldaten gehört auch der Schutz sowie die Offenhaltung des Latschinkorridors.

Armenien orientiert sich gen Westen

Doch seit nunmehr neun Monaten blockiert Aserbaidschan den Korridor. Russland blieb und bleibt untätig. Bereits vor Wochen hatten Menschenrechtsorganisationen sowie unter anderen auch Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IstGH), vor einem drohenden Genozid an den Ar­me­nie­r*in­nen in Bergkarabach gewarnt.

Nicht zuletzt diese Art von unterlassener Hilfeleistung Moskaus befördert eine Abkehr Armeniens von Russland, das in der zweitgrößten Stadt Gjumri seine einzige Militärbasis im Südkaukasus unterhält. Und sie lässt das Land mit knapp drei Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen nach Alternativen Ausschau halten.

Nachdem Jerewan bereits Anfang des Jahres ein gemeinsames Manöver der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) in Armenien abgesagt hatte, wurde kürzlich Armeniens Vertreter in der OVKS abberufen. Dem von Russland geführten Militärbündnis gehören neben Armenien auch Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan an.

Am 1. September legte die Regierung dem Parlament das Römische Statut des IstGH zur Ratifizierung vor. Sobald dieser Schritt erfolgt ist, müsste Russlands Präsident Wladimir Putin wegen eines entsprechenden Haftbefehls des IstGH bei einem Armenienbesuch festgenommen werden. In der vergangenen Woche reiste Anna Akopjan, Frau des armenischen Premiers Nikol Paschinjan, in die ukrainische Hauptstadt Kyjiw und übergab dort humanitäre Hilfe.

Vor wenigen Tagen sagte Paschinjan der italienischen Zeitung La Repubblica, dass Jerewans Ausrichtung auf Russland ein strategischer Fehler gewesen sei. Seit dieser Woche läuft in Armenien unter dem Namen „Eag­le Partner“ eine Übung, bei der sich 175 armenische und 85 US-Soldaten gemeinsam auf Einsätze bei internationalen Friedensmissionen vorbereiten.

Doch trotz dieser Entwicklungen bleibt die Frage offen, wer für Armenien künftig Sicherheitsgarantien übernehmen könnte. Doch genau das könnte schon bald existenziell werden – wenn eintritt, was viele in Armenien fürchten: ein Angriff Aserbaidschans auf ihr Land.

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6 Kommentare

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  • Jerewan ist die armenische Hauptstadt. Dort sitzt wahrscheinlich auch die armenische Regierung. Und diese armenische Regierung beabsichtigt offensichtlich Putin festzunehmen und sich von Russland abzukoppeln und betreibe nun eine Militärübung mit US-Soldaten.



    Gleichzeitig wundert sich die armenische Regierung, dass Russland darüber nicht besonders amüsiert ist.



    Geht es noch ignoranter?







    So wie ich die Lage sehe ist der einzige Weg den die Armenier haben, um ihre Bevölkerung in Bergkarabach zu halten, maximale diplomatische Bemühungen mit dem Nachbar Aserbaidschan. Gelingt das nicht, werden die Armenier Bergkarabach, dass völkerrechtlich Staatsgebiet von Aserbaidschan ist, verlassen müssen. So einfach ist das.

  • Leider bleiben Fragen offen: Wie kam es dazu, dass das russische Rote Kreuz nach Bergkarabach liefert? Und lässt sich das wiederholen? 1000 Pakete für 120.000 Menschen werden nicht allzu lange reichen.



    Wenn Armenien sich von Russland löst, was bedeutet das für den Konflikt mit Aserbaidschan?



    Vielleicht könnte man das alles wissen, aber ahnungslos wie ich bin hätte ich hier mehr Info gebraucht - vielleicht kommt die ja noch?

  • Ein Trauerspiel was sich dort abspielt und vermutlich wird der Westen auch beim nächsten Angriffs von Aserbaidschan tatenlos zuschauen. Leider haben die Einwohner von Aserbaidschan das Pech, dass ihr Land im Gegensatz zur Ukraine geopolitisch uninteressant ist. Wo bleibt da eigentlich der Aufschrei von uns? Solidarität und moralische Werte? Oder doch lieber weiterhin Gasverträge mit Aserbaidschan abschließen?



    Russland wird der Welt mit Vergnügen zeigen was es bedeutet, wenn sie als "Ordnungsmacht" ausfällt; Armeniener können einem sehr Leid tun.

    • @Alexander Schulz:

      Hier macht der Westen doch genau das was sie wollen. Keine Waffen liefern, keine Sanktionen und auf Verhandlungen drängen. Mittelfristig wird das halt dazu führen das Aliyev und diejenigen die von Groß-Aserbaidschan träumen Armenien auslöschen. Da geht es längst nicht mehr nur um Karabagh sondern eine Landverbindung im Süden, wobei schon Ansprüche auf Jerewan angemeldet werden. Dann gibt es noch imperialistische Ansprüche gegenüber Iran.

      • @Machiavelli:

        Hierbei handelt es sich um eine unpassende Unterstellung. Ich habe mich nie generell gegen Waffenlieferungen für die die Ukraine ausgesprochen. Ab einem gewissen Punkt war es für eine rein diplomatische Lösung zu spät. Jedoch finde ich die Art der Waffen entscheidend und die Prioritätensetzung; ein Lösungsansatz der vor allen Dingen auf die militärische Komponente setzt halte ich falsch.



        Ich denke, dass auch anhand ihrer jetzigen Antwort unsere unterschiedlichen Philosophien deutlich werden. Indirekt setzen sie hier auch auch auf Waffen und malen ein Bild aus was sonst passiert. Ich hingegen denke, dass in diesem Fall einfach eine diplomatische Lösung erzielt werden könnte (dieses ist bei fast allen Kriegen möglich).



        Im Armenien-Aserbaidschan Konflikt liegt der Schlüssel in der Türkei. Ohne Zustimmung der Türkei macht Aserbaidschan gar nichts. Jetzt kann man sich natürlich fragen warum nicht entsprechend Druck auf die Türkei ausgeübt!?



        Meine Vermutung ist, dass Armenien geopolitisch einfach zu uninteressant ist, um deswegen einen ("unnötigen") Konflikt mit Erdogan anzufangen, der Nachteile bei anderen Themen mit sich bringen würde (zb Flüchtlingsfrage).

        • @Alexander Schulz:

          Diplomatie findet auf den Schultern von Armeen statt. Wenn Aliyev ein nationalistischer Diktator mit Großmachtsträumen militärisch die Möglichkeit sieht sich deutlich mehr Land zu holen wird er das machen.

          Karabagh ist für Armenien in jedem Fall verloren. Mann kann hier vielleicht ein bischen politische Autonomie in Azerbaijan raushandeln aber hier würden auch keine Waffen helfen da stimmte ich überein.

          "Ich hingegen denke, dass in diesem Fall einfach eine diplomatische Lösung erzielt werden könnte (dieses ist bei fast allen Kriegen möglich)." das halte ich für gelinde gesagt naiv. einfach wird die Lösung in keinem Fall. Und jede Lösung hält nur solange Azerbaijan das will, ein alternder Diktator der sich noch einen Namen machen will, ein nationalistischer Heißsporn als Nachfolger und schon ist man schnell im nächsten Krieg.

          Ihre Einschätzung zur Türkei halte ich für falsch das sind Verbündete aber Azerbeidschan ist kein Vasall und die Türkei ist auch nur mäßig daran interessiert Friedensmacht zu sein. Die Türkei ist für Aserbaidschan was China für Russland ist, der große Bruder.



          Waffen werden in diesem Fall keine Lösung sein, schlicht weil man sie nicht reinbekommt. Weil die Türkei hier blockieren kann und wird.

          Ich glaube einfach es gibt eine Menge Menschen und insbesondere Diktatoren für die hat Frieden keinen Wert und Teilweise ist Krieg sogar ein Wert an sich. So wie in "1984" Krieg dazu dient das Regime zu stabilisieren kann ein Diktator einen Zustand andauerenden Konfliktes nutzen seine Herrschaft zu stabiliseren das ist so hier der Fall, definitiv bei Putin, möglicherweise auch bald bei China.