Bürgerbeteiligung in Bremerhaven: Wischen für die Stadtentwicklung

Bremerhaven nutzt die Plattform „Swipocratie“, um Bür­ge­r*in­nen an der Entwicklung der Innenstadt zu beteiligen. Um Repräsentativität geht es nicht.

Die Bremerhavener Havenwelten mit Klimahaus und Sail City vom Meer aus gesehen.

Nur 100 Meter trennen die Havenwelten (vorne im Bild) und die Innenstadt Foto: Sina Schuldt/dpa

HAMBURG taz | Nachdem die Stadt Bremen bei „Tinder“ bereits Werbung geschaltet hat, um junge Menschen in die Stadt zu locken, hat die Nachbarstadt Bremerhaven nun eine Umfrage in Form der Dating-App gestartet: Mit der Beteiligungsplattform „Swipocratie“ will die Verwaltung seit Dienstag herausfinden, wie eine Verbindung zwischen den touristisch geprägten „Havenwelten“ und der Innenstadt geschaffen und wie „die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt gesteigert werden kann“.

Innenstadt und Havenwelten, also das Viertel am Wasser, werden im Moment durch die mehrspurige Columbusstraße voneinander getrennt.

Um abstimmen zu können, muss allerdings niemand eine App herunterladen, auch eine Anmeldung ist nicht nötig. Über einen Link gelangen Bre­mer­ha­ve­ne­r*in­nen auf eine Website, die sich auf dem Handy wie eine App nutzen lässt. Es ist auch möglich, das Programm vom Computer aus zu nutzen.

„Wir haben das Beteiligungsformat bewusst niedrigschwellig gehalten, weil wir ein breites Meinungsbild aus der Bevölkerung erhalten wollen“, sagt Bremerhavens Oberbürgermeister Melf Grantz (SPD). Durch einen Klick oder ein Wischen nach links oder rechts können die Teilnehmenden dann Aussagen wie „Ich gehe gern in die Innenstadt“ zustimmen oder eben nicht. Außerdem lassen sich bestimmte städtebauliche Maßnahmen nach Wichtigkeit sortieren.

Die Innenstadt finden viele unattraktiv

Die Bremerhavener Innenstadt finden viele unattraktiv, was auch an baulichen Gegebenheiten liegt. In den Havenwelten hingegen können Menschen mit Blick auf das Meer spazieren gehen und es gibt Ausflugsziele wie das Klimahaus oder den Zoo.

Mit der Beteiligung per Swipe – zu deutsch: wischen – ist Bremerhaven Vorreiterin: Sie ist die erste deutsche Stadt, die die in den Niederlanden entwickelte Plattform nutzt. Dabei ist die Beteiligung hier gering, mindestens bei Wahlen: Bei der Bürgerschaftswahl 2023 lag sie bei 40,3 Prozent – und damit um acht Prozent niedriger als 2019.

Auch in anderen Bereichen schneidet Bremerhaven schlecht ab: In einem Ranking zur Lebensqualität landete Bremerhaven 2019 auf Platz 69, während die Stadt Bremen auf Platz 17 kletterte. Die Arbeitslosenquote lag laut Statista 2022 bei 13,3 Prozent. Die Menschen in Bremerhaven sind mit einer Armutsquote von 33,5 Prozent im Jahr 2021 deutlich ärmer als im Bundesschnitt, hier lag die Quote im selben Jahr bei 16,6 Prozent.

Solchen Entwicklungen will die Stadt aber nun mit verschiedenen Beteiligungsformaten entgegenwirken. In den sozialen Medien ruft sie die Bür­ge­r*in­nen dazu auf, sich an der Ideenfindung für das 200-jährige Stadtjubiläum im Jahr 2027 zu beteiligen. Mit Mitteln des Bundesförderprogramms „Zukunftsfähige Innenstädte und Zentren“ wurde eine Umfrage zu einer „Markthalle der Nachhaltigkeit“ und das Beteiligungsformat „Swipocratie“ umgesetzt.

„Ich finde ‚Swipocratie‘ recht interessant und bin gespannt, wie viele Leute sich beteiligen“, sagt Dominik Santner von der Arbeitnehmerkammer Bremen. „Vielleicht ergibt sich dadurch die Möglichkeit, dass andere Gruppen als sonst sich beteiligen: nicht nur Ältere, die die Zeit dafür aufbringen können, sich in Gremien zu beteiligen, sondern auch berufstätige Menschen im mittleren Alter.“

Menschen unter 18 sind besonders schwer zu erreichen

Tatsächlich soll „Swipocratie“ mit ihrer Anlehnung an Dating-Apps nicht nur die sehr junge Generation erreichen, sondern alle sehr schwer zugänglichen Zielgruppen. „Menschen zwischen 40 und 60 Jahren sind am einfachsten zu erreichen“, sagt Florian Francken, Designer und Mitentwickler von „Swipocratie“. „Um Menschen unter 18 muss man sich mehr bemühen.“ Und zumindest in den Niederlanden ließen sich die Älteren „durch den Look der App nicht abschrecken“.

In den Niederlanden hat Francken die Plattform mit dem Landschaftsarchitekten Paul Roncken konzipiert und in knapp 100 Projekten genutzt, meistens für Provinzen, Gemeinden oder Städtebaubüros.

„Es geht sehr oft um öffentlichen Raum oder um die Energiewende“, sagt Francken. Eben wenn man will, dass Leute mitdenken. Erreicht haben sie damit meist zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung. „Letztens haben wir in einer Kleinstadt 15 Prozent der Menschen erreicht, das war Rekord.“ Ob es in Bremerhaven auch so gut läuft, ist nicht klar. „Deutschland ist für mich neu“, sagt Francken.

Bei dem Projekt geht es nicht um Repräsentativität, sondern darum, interessierte Menschen zu gewinnen: Denn am Ende der Befragung haben die Teil­neh­me­r*in­nen die Möglichkeit, eine Mail-Adresse anzugeben, wenn sie an einem der im November geplanten Beteiligungsworkshops zur Entwicklung der Innenstadt teilnehmen möchten.

„Uns ist es wichtig, dass wir uns mit den Menschen auch nach der Umfrage weiter über die zukünftigen Planungen austauschen“, sagt Bürgermeister Torsten Neuhoff vom Stadtplanungsamt. Die Plattform „Swipocratie“ ist noch bis zum 3. Oktober aktiv.

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