Graphic Novel über das Zeichnen: Comiczeichner in Ordenstracht
Zeitreise ins Mittelalter und in die nahe Zukunft: Das Comicbuch „Lose Blätter“ von Alexandre Clérisse handelt ideenreich von der Lust des Erzählens.
Schon auf der ersten Seite wird klar: Max ist ein Besessener. Obwohl die Ferien noch nicht zu Ende sind und draußen bestes Wetter ist, sitzt der Junge mit der dicken Brille drinnen – und zeichnet manisch an einer Comicgeschichte. Sein Vater wundert sich, dass sie ausgerechnet im Mittelalter spielt. Als Max dann doch hinausgeht, um im Wald Skizzen zu machen, stößt er auf einen seltsamen Mann mit langem rotem Bart, der in einer Burg haust.
Der 1980 geborene französische Zeichner Alexandre Clérisse erzählt in seiner neuen, im Hamburger Carlsen Verlag erschienenen Graphic Novel „Lose Blätter“ keine lineare Geschichte. Der Handlungsstrang um den jungen Max und dessen künstlerische Entwicklung hat möglicherweise autobiografische Züge, ist aber doch nur ein Teil einer geschickt ineinander verschachtelten Erzählung. Es geht nämlich um drei Personen in drei verschiedenen Epochen, die parallel erzählt werden.
Die Angst vor dem Fallbeil
Da ist einmal Max, den es in den 1990er Jahren dazu drängt, eine Geschichte über den Kopistenmönch Raoul im 15. Jahrhundert zu zeichnen. Dieser Held der zweiten Erzählung wird eines Tages auf neuartige, von den Obrigkeiten als „teuflisch“ eingestufte Erzeugnisse einer Druckerpresse aufmerksam. Raoul fühlt sich von seiner eigenen Zeit eingeengt und möchte im Geheimen mithilfe der Drucktechnik gezeichnete Geschichten aus der Zukunft erzählen und verbreiten. Seine Hauptfiguren sind Max und Suzie. Die Angst vor dem Fallbeil ist groß, auch wenn der Herzog der größte Fan des so entstandenen „Comics“ wird.
Alexandre Clérisse: „Lose Blätter“. Aus dem Französischen von Thomas Schöner. Carlsen Verlag, 144 Seiten, 25 Euro
Suzie ist wiederum die Heldin des dritten Parallelstrangs: die erwachsene Tochter von Max, dem mittlerweile berühmten, alten Comiczeichner. Sie lebt in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts, zeichnet ebenfalls und führt Max’ Comicserie mithilfe virtueller Realität fort – inzwischen schon eine veraltete Technik. Ist Suzie die eigentliche Erzählerin des vorliegenden Buches, oder doch der junge Max? Oder ist es gar der Mönch und Comicpionier Raoul, dessen Fantasie in die ferne Zukunft schweift?
Die Erzählebenen lösen sich auf
Der Erschaffer dieser Erzählwelt, der Zeichner Clérisse, arbeitete in den vergangenen Jahren oft mit dem Autor Thierry Smolderen zusammen, der eine Neigung zu komplexen Erzählkonstruktionen hat. Ihre gemeinsamen Graphic Novels wie „Das Imperium des Atoms“ (2013) und „Ein diabolischer Sommer“ (2016) erschienen in deutscher Übersetzung, während Clérisse’ sonstige Comics hierzulande bisher ignoriert wurden. Mit „Lose Blätter“ legt er nun sein Meisterstück vor.
Insbesondere an einer Stelle wird die Graphic Novel spannend: als klar wird, dass sich die verschiedenen Erzählebenen gegenseitig beeinflussen und bedrohen. Die Kapiteleinteilung versieht der Zeichner mit bewusst verwirrenden Bezeichnungen wie „Präambel“ oder „Präludium“, springt vom „ersten Kapitel“ zum „Kapitel eins“ und so fort. Doch die Verständlichkeit beeinflusst das nicht. Dass die Erzählebenen hinterfragt werden und sich allmählich auflösen, macht gerade den Spaß der Lektüre aus.
Lektion über das Comiczeichnen
Alexandre Clérisse ist dafür bekannt, seine Comics mittels digitaler Vektorgrafik zu zeichnen. Seine Seitenlayouts erinnern dadurch ein wenig an bunte Infografiken. Diesmal nutzt er klassisches Werkzeug: Die Bilder sind als Bleistiftvorzeichnung auf Papier entstanden und in Couleur-directe-Technik mit Acrylfarben koloriert. Besonders pfiffig ist, dass seine sich oft auf Doppelseiten erstreckenden Zukunftsvisionen auf Buchillustrationen des 15. Jahrhunderts – dem „Stundenbuch“ des Herzogs von Berry – basieren. So scheint es, als hätte sich wirklich der Mönch Raoul auf Basis des damaligen Wissens eine zukünftige Stadt erträumt. Der leicht naive Touch dieser großen Wimmelbilder des Buches ist somit auch wohlbegründet.
„Lose Blätter“ (im Original bedeutet „Feuilles volantes“ auch „Flugblätter“, wie die ersten verbreiteten Druckerzeugnisse um 1488) ist eine virtuos konstruierte und grafisch abwechslungsreiche Lektion über das Comiczeichnen und das Erzählen. Sie macht Lust darauf, auf (Bücher-)Zeitreise zu gehen – alte Bildwelten zu durchstreifen oder nach frühen Zukunftsvisionen zu suchen, die meist von der Gegenwart der jeweiligen Zeichnerinnen und Zeichner erzählen.
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