100-Tage CDU-geführtes Berlin: „Der Lackmustest kommt noch“

Ein Gespräch mit dem Grünen-Urgestein Wolfgang Wieland über den Machtwillen von Kai Wegner und die Fehler der Grünen.

Kai Wegner beim 29. Lesbisch-schwules Stadtfest am Nollendorfplatz in Berlin-Schöneberg

Heute braucht es mehr als Schultheiss und Hund: Kai Wegner beim Lesbisch-Schwulen Stadtfest Foto: dpa

taz: Herr Wieland, haben Sie Kai Wegner unterschätzt?

Wolfgang Wieland: Ja. Ihm fehlt eigentlich alles, um Regierender Bürgermeister zu werden. Keine Verwaltungserfahrung, keine Regierungserfahrung, wenig Ausstrahlung. Was er aber an Übermaß hat, ist Durchsetzungsstärke und Machtwillen, jedenfalls innerparteilich.

Dass Wegner Regierender Bürgermeister wird, war für Sie demnach undenkbar?

Das habe ich ihm auch direkt gesagt, als ich ihn nach seiner Wahl bei einer Kranzniederlegung getroffen habe. Er antwortete dann, damit habe überhaupt niemand gerechnet – „nur ich“. Das muss man sich mal vor Augen führen, angesichts der Rückschläge, die er weggesteckt hat.

Seit Gründung der Alternativen Liste 1978 ist Wolfgang Wieland (75) Mitglied der Grünen. Von 1987 bis 2004 gehörte er dem Berliner Abgeordnetenhaus an. 2001 bis 2002 war er Justiz­senator. Von 2005 bis 2013 war er in der Grünen-Bundestagsfraktion Sprecher für innere Sicherheit. Er ist in verschiedenen Ehrenämtern aktiv, unter anderem als Vizepräsident der Deutschen Kriegsgräber­fürsorge und Ombudsman des Landesamtes für Einwanderung.

Was meinen Sie?

Er war Generalsekretär der Berliner CDU und wurde durch Stefan Evers abgelöst. 2021 wurde er Spitzenkandidat bei den Abgeordnetenhauswahlen und die CDU landete auf Platz drei. Und nur, weil diese Wahl 2022 wiederholt werden musste, lag er auf einmal vorn. Nicht kraft eigener Stärke, sondern weil die Konkurrenz versagt hat …

… die SPD und Ihre eigene Partei, die Grünen.

Und dann kam noch der absolute Zufall dazu, dass die eigentlich regierungsfähige SPD freiwillig darauf verzichtet hat, den Führungsanspruch zu stellen. So viel musste erst mal zusammenkommen, bis er den Job erreicht hat.

Was sagt uns das für Wegners Zukunft?

Gar nichts. Aber wer jetzt glaubt, bei der nächsten Wahl ist er weg, erliegt einem Irrtum. Das haben wir auch schon mal mit Eberhard Diepgen erlebt …

… der letzte Berliner Regierende mit CDU-Parteibuch.

Den hatte auch niemand auf dem Zettel, als Richard von Weizsäcker 1984 das Amt als Regierender Bürgermeister aufgegeben hatte und Bundespräsident wurde. Wir haben uns damals alle über den blassen Eberhard lustig gemacht. Der blieb dann aber sehr lange.

16 Jahre insgesamt, unterbrochen von einem zweijährigen rot-grünen Regierungsintermezzo vor der Wende.

2001 wurde Diepgen dann eigentlich nur durch die Berliner Bankenaffäre aus dem Amt gekegelt.

Gibt es so etwas wie ein Prinzip Kai Wegner?

Nicht, dass ich wüsste. Offenbar ist er aber ein erfolgreicher Strippenzieher, der es schafft, Seilschaften hinter sich zu bringen. Mir ist aber nicht bekannt, dass er da mit unfairen Mitteln gearbeitet hätte. Teile der Berliner CDU – ich sage nur Bezirksverband Zehlendorf – sind ja als ziemlicher Intrigantenstadl bekannt, da wurde wirklich mit Tiefschlägen und gefälschten Wahlen gearbeitet. Das kann man Kai Wegner nicht nachsagen. Er hat auf sein Ziel hingearbeitet, er hat es mit offenem Visier getan, er wurde nur nicht ernst genommen.

Wegner vermischt gern Politisches mit Privatem. Stichwort Sellerie. Den neuen Partner seiner Ex-Frau, Patrick Sellerie, machte er zu seinem persönlichen Referenten.

Keine Ahnung, ob das stabilisiert, den Partner der Ex-Frau um sich zu haben. Aber natürlich stilisiert sich Wegner als Normaler aus der Vorstadt.

Aus Spandau, wo er wohnt und aufgewachsen ist.

Mit dem Hund auf den Rieselfeldern, einer wie ihr sozusagen. Das ist früher auch ein Erfolgsrezept der Westberliner CDU gewesen, dieses Schrebergartennahe, Schultheiss-Bier in der Hand – das ist die alte Attitüde. Aber nun wird es spannend, das reicht heute nicht mehr so wie in den 80er Jahren knapp an die 50 Prozent der Wählerstimmen für die CDU heran.

Seit der Wende hat sich die Berliner Bevölkerung stark verändert.

Wegner stellt das ja selber fest, dass die Stadt zweigeteilt ist zwischen grüner Innenstadt und schwarzer Peripherie. Sein Versprechen ist, er will das versöhnen. Na ja, das muss man mal sehen.

Was für ein Zeugnis würden Sie ihm nach 100 Tagen ausstellen?

Die Frage ist richtig gut. Wie finden Sie Kai Wegner? (lacht amüsiert). Ich finde ihn gar nicht. Was seine Verkehrssenatorin betrifft und die Justizsenatorin, die wegen ihrer früheren Tätigkeit beim Bundesamt für Verfassungsschutz mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht worden war, kann ich nur sagen: Hilfe!

Wegner war einer der ersten, der den Bundesvorsitzenden der Union, Friedrich Merz, für dessen Aussagen über die AfD kritisierte. Was, vermuten Sie, war sein Kalkül?

Wenn Wegner, wie er es angekündigt hat, von rechts in die Mitte wandert, dann freuen wir uns doch und rätseln nicht öffentlich über Kalkül herum.

Als Chef der Jungen Union hat Wegner früher selbst Rechtsaußen-Positionen vertreten. Hängt er sein Fähnlein nach dem Wind?

Ich bin nicht dafür, ihm sein Schuldregister aus Zeiten der Jungen Union vorzuhalten. Das ist wirklich lang her. Der Verdacht, dass er sein Fähnlein nach dem Wind hängt, besteht aber ohne jede Frage. Er ist ja auch zu uns, den Grünen, betont freundlich, nachdem er die Perspektive hatte, eventuell muss ich ja mit den Grünen. Der Lackmustest wird noch kommen. Angesichts der hohen AfD-Werte ist die entscheidende Frage aber eine ganz andere.

Die wäre?

Steht die Brandmauer gegen­ die AfD? Wir Grüne dürfen nicht den Fehler von Merz machen und die CDU zum Hauptgegner zu erklären.

So wie Merz das mit den Grünen macht.

Genau. Hauptgegner ist die AfD. Wenn ich deren Umfragewerte sehe, wird mir angst und bange. Deswegen will ich in Zukunft nicht auf Kai Wegner einprügeln müssen, sondern auf die AfD, und nach Möglichkeit mit allen demokratischen Parteien gemeinsam, ohne die Unterschiede zwischen uns zu verwischen.

Apropos Unterschiede. Davon, dass die Grünen im Verkehrsbereich so lange die Verantwortung hatten, ist wenig zu spüren. Wie sehen Sie das?

Man kann schon mal fragen, wo nach sechs Jahren grüner Verantwortung die schönen autofreien Plätze sind, auf denen man sich gerne aufhält. Wo wirklich eine Verkehrswende eingetreten ist, die der Bevölkerung einen Mehrwert bringt. Da denke ich, haben wir viel Grund zur Selbstkritik.

Pop-up-Radwege zumindest waren eine gute Erfindung.

Das sehe ich auch so. Das ist vor allen Dingen ein Verdienst der grünen Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann mit Unterstützung der Coronapandemie. In meinem Wohnumfeld an der Skalitzer Straße und am Kottbusser Damm geschützte Radwege zu haben – dass ich das noch erlebe! Gerechnet hatte ich damit ehrlich gesagt nicht mehr, wo ich jahrzehntelang unter Lebensgefahr diese Straßen benutze.

Inwieweit nehmen Sie noch Einfluss auf grüne Politik?

Ich verfolge sie noch, ich diskutiere auch mit. Ich verstehe mich als sogenannten Elder Statesman, der aber nicht den Weisen vom Berg spielen möchte.

Dennoch. Was würden Sie den Berliner Grünen für die Zukunft raten?

Runter vom Verbalradikalismus in Verkehrsfragen, das hat uns bei der Wahl das Genick gebrochen. Eine realistische Verkehrspolitik konzipieren, aber auch nicht darauf warten, bis der Letzte sein Auto freiwillig stehen lässt.

Und sonst?

Konstruktive Oppositionspolitik aus den Gründen, die ich bereits sagte. Mehr als 30 Prozent für die AfD in Sachsen und in Thüringen – das ruft bei mir Assoziationen hervor. Das ist Priorität. Die Frage Krieg und die Frage Klimawandel ist Priorität, die Flüchtlingsproblematik auch. Wir haben eine Menge Krisen. Da darf ich mich nicht in Nebenfragen verdaddeln, ob ich mein Kind noch Indianerhäuptling spielen lassen darf.

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