Die Wahrheit: O, du schiefe Magie der Sprache
Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (13): Wie ich einmal einen schweigenden Hut erklomm und dabei schluckend vom Hügel herab winkte.
In meinem langen Arbeitsleben als Redigierkraft sind mir viele sprachliche Merkwürdigkeiten untergekommen, und ich habe manchen Autor vor stilistischen Dummheiten bewahrt. Mindestens zwei Lieblingssätze aber sind mir auf ewig ins Hirn eingebrannt.
Am 8. März anno Tobak begann eine Frauenredakteurin ihren Leitartikel auf der Seite eins mit dem pathetischen Satz: „Heute ist Frauentag, endlich ist Schluss mit Schlucken und Schweigen.“ Ein schmissiger Stabreim sei das, lobte ich als Chef vom Dienst die Autorin und fragte sie, ob es denn tatsächlich so sei, dass Frauen nur am Frauentag aufbegehren? Und ob es ihr eigentlich bewusst sei, dass sie mit ihren Worten besonders bei psychoanalytisch geschulten Lesern ein schiefes Bild sexueller Natur entwerfe von Frauen, die das ganze Jahr über auf Knien schlucken und schweigen? Die Frauenredakteurin sah mich mit großen Augen an. Ich strich den Nebensatz, was sie schweigend hinnahm, ohne zu schlucken.
Ähnlich forsch leitete einst im selben Blatt ein Praktikant seinen Besinnungsaufsatz ein: „‚Ein Gespenst geht um in Europa‘ – das riecht nach einem alten Hut.“ Wie denn ein alter Hut rieche?, fragte ich als Redakteur den jungen Nachwuchsautor. Oder meine er gar einen alten Hund? Aber wenn das in Europa umgehende Gespenst unangenehm nach Hut müffle, dann müsse es wohl zum Hutmacher, der sicher etwas gegen den Geruch tun könne. Der Praktikant sah mich mit großen Augen an und kratzte sich schweigend den unbehüteten Kopf. Ich strich den zackigen Einstieg mit dem kapitalen Zitat.
Im Hausblatt las ich kürzlich über die französische Hauptstadt eine Reisereportage, in der ein wunderlicher Satz auftauchte: „Ich erklimmte die Berge von Paris.“ Ich war hocherfreut, weil die Autorin wie ich ursprünglich vom linken Niederrhein stammen musste, wo jeder verwarzte Huckel sofort zum Berg wird. Die höchste Erhebung des flachen Landstrichs ist der „Oermter Berg“, der stramme 68 Meter über Normalnull hat. Da ist es nur zu verständlich, dass aus Pariser Hügeln wie dem Montmartre wortwörtlich ein Alpengebirge wird, das die Autorin offenbar mit Pickel und Steigeisen „erklimmte“. Was zumindest grammatikalisch unter Normalnull ist, weil das Verb „erklimmen“ stark flektiert wird. Das Präteritum lautet „erklomm“. Beklommen teilte ich meinen Befund der Kollegin mit, die ihn schweigend zur Kenntnis nahm.
Der alte Fehler der Sportreporter
Apropos starke Flektion. Kürzlich schrieb ein versierter Autor in einer Kolumne, etwas sei „durchgewunken“ worden. Sportreporter machen gern den alten Fehler und behaupten: „Der Linienrichter hat gewunken.“ Vom Oberlehrerhügel herab wies ich den Autor auf die Stärke des Winkens hin. Als Beispiel hatte ich ein bildreiches Lehrstück verfasst: „Eine Frau hat sich morgens geschmunken, mit dem Auto an der Kreuzung nicht geblunken und deshalb nach einem Unfall gehunken.“ Trotz anderslautenden Sprachgefühls heißt das Partizip auch bei „winken“ immer „gewinkt“.
Meine liebste Katachrese, wie schiefe Sprachbilder wissenschaftlich genannt werden, stammt jedoch von meinem Vater. Eines Tages schenkte ich ihm ein Bier-Lexikon des Wahrheit-Autors Jürgen Roth. Er las es und sagte: „Ich trinke Bier jetzt mit ganz anderen Augen.“ Mit großen Augen sah er mich an, als ich lachte, weil sich Bier besser mit dem Mund trinken lässt. Das Bonmot aber übermittelte ich dem Buchautor, der es sofort als Motto in die zweite Auflage übernahm und auch als Werbung nutzte, sodass ich meinem Vater den Verlagskatalog mit dem prominent platzierten Zitat unter seinem Namen präsentieren durfte – er konnte es kaum fassen. Noch heute hebe ich manchmal abends das Glas und proste schluckend meinem viel zu früh verstorbenen alten Herrn im Rauschhimmel zu: „Jetzt trinke ich Bier mit anderen Augen.“ Ein kleiner Seelentröster.
Weniger tröstlich erging es dem Altmeister Kurt Tucholsky mit seiner Seelenmetapher. Anfangs war die Sentenz „Die Seele baumeln lassen“ eine originelle Parodie auf den schrägen Jargon von Reisereportern. Nachdem er das eindringliche Sprachbild 1931 in seiner Sommergeschichte „Gripsholm“ zum zweiten Mal unterbrachte, machte es bald die Runde in der Wahrnehmungswelt. Mittlerweile hat die erstarrte Metapher allerdings ihren Reiz und jeden komischen Gehalt verloren, weil sie längst zum Standardbausatz schlechter Reisereportagen gehört.
Das Metaphernpferd ist totgeritten. Und totreiten sollte man weder Pferde noch Bilder. Nicht einmal schluckend und schweigend. Denn auf ihren Rücken liegt der Erde Glücken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk