Die Leute
mit dem Superblick

Augen, die nicht vergessen: Großes erwarten sich Polizei, In­nen­po­li­ti­ke­r:in­nen und Medien von Super Recognizern – Menschen, die besonders gut sind im Wiedererkennen von Gesichtern. Aber längst nicht alle Hoffnungen sind begründet

Illustration: aus einer einheitlich grün gefärbten Mensxchenmenge stechen drei Personen hervor, aus deren Augen Blitez zu schießen scheinen

Wenn die Welt als Comic erscheint: Dass Super Recognizer übernatürliche Fähigkeiten haben oder real existierende Super­hel­d:in­nen sind, glauben vor allem Medien Illustration: Eléonore Roedel

Von Eiken Bruhn

Ein diffuses Unwohlsein beschleicht die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel, wenn sie über sogenannte „Super Recognizer“ bei der Polizei liest. Das sind Menschen, die ein besonderes Gespür für Gesichter haben: Sie können sich sehr lange an sie erinnern, auch nach flüchtigem Kontakt. Oder wissen sofort, ob es sich um ein- und dieselbe Person handelt, von der sie vielleicht nur ein unscharfes Foto gesehen haben, und die sich stark verändert hat.

Super Recognizer hatten in den vergangenen Monaten Hochkonjunktur, unter anderem wegen eines Fernseh-„Tatort“ im April, in dem eine Super Recognizerin einen Mörder finden sollte. Zudem haben mehrere Bundesländer angekündigt, verstärkt auf dieses Fahndungstool setzen zu wollen, darunter Sachsen. Wie das funktioniert, bleibt in den Medienberichten oft nebulös. Manchmal klingt es, als hätten sich die Jour­na­lis­t:in­nen in eine Comic-Welt verirrt: Da ist die Rede von Menschen mit „übernatürlichen Fähigkeiten“, die „Verbrecherjagd per Superkraft“ betreiben – weil sie „Augen haben, die nicht vergessen“.

Angesichts solcher Schlagzeilen ist es nicht verwunderlich, dass die Linken-Abgeordnete Nagel Sachsens CDU-Landesregierung auffordert, aufzuklären über den Einsatz dieser „menschlichen ‚Speichermedien‘“, wie sie es nennt. Verwunderlich ist eher, dass sie damit die einzige Parlamentarierin ist: Es gibt zwar eine Handvoll Anfragen, aber die zielen darauf, wann überall Super Recognizer eingesetzt werden.

Dabei ist es dringend geboten, genauer hinzuschauen. Allerdings geht es dabei weniger um Bedenken, wie Juliane Nagel sie hegt: dass sich die Super Recognizer „präventiv“ jede Person merken könnten, die ihnen auf Demos begegnet. Die Sorge ist unbegründet. Selbst wenn sie das könnten, hätte das alleine keine Folgen. Das hätte ihr auch Innenminister Armin Schuster im Juni auf ihre Anfrage im Landtag erklären können. Aber er verweigerte die Auskunft.

Problematisch ist vielmehr: Mit Ausnahme von Berlin und Rheinland-Pfalz haben fünf von sieben In­nen­mi­nis­te­rien sowie die Bundespolizei keine Ahnung, ob ihre Super Recognizer für die ihnen zugedachten Aufgaben geeignet sind – und was das Verfahren taugt, mit dem sie gesucht werden. Das zeigen Antworten auf Fragen der wochentaz, die alle Bundesländer sowie die Bundespolizei angeschrieben hat.

Zunächst zu dem, was die Behörden wissen: Abgesehen von Nordrhein-Westfalen können sie immerhin sagen, wie viele Super Recognizer sie beschäftigen. Das reicht von drei in Berlin bis zu 400 in Baden-Württemberg. Bei der Bundespolizei sind es 113. In Hessen hatten landesweit 3.104 Polizeibedienstete eine computergestützte Testreihe absolviert, 237 Kan­di­da­t:in­nen bestanden alle Stufen. In Bayern identifizierte das Polizeipräsidium München 23 Super Recognizer in seinen Reihen, genauso viele gibt es im sächsischen Chemnitz. Und in Rheinland-Pfalz waren im Polizeipräsidium Koblenz sechs im Einsatz. Die anderen Bundesländer setzen derzeit keine ein – teils mit der Begründung, es gebe kein wissenschaftlich gesichertes Auswahlverfahren.

Das Lösen schwerer Fälle ist die Ausnahme

Die wochentaz hat mehrere Polizeipräsidien gefragt, ob sie mit einem Super Recognizer sprechen kann. Alle sagten mit der Begründung ab, die Betroffenen seien den Medienrummel leid. Ihre Tätigkeit ist dabei weniger glamourös als es manche Berichte erscheinen lassen. Darin gestehen Verdächtige ihre Taten auf der Stelle, weil sie so perplex sind, aufgespürt worden zu sein. Dass Super Recognizer dabei helfen, Kapitalverbrechen aufzuklären, ist aber die Ausnahme.

Oft geht es darum, Videoaufnahmen von Straftaten auszuwerten und bekannte Personen zu identifizieren – meistens Wie­der­ho­lungs­tä­te­r. Oder zu entdecken, dass es sich bei unterschiedlichen Taten um dieselbe Person handelt. Zudem können Super Recognizer auf Großveranstaltungen nach bekannten Gewalttätern Ausschau halten, die einen bestimmten Ort nicht betreten dürfen oder die die Polizei im Auge behalten möchte.

Dazu muss man kein Super Recognizer sein. So sagte ei­ne:r der drei Polizist:innen, die nach den Attacken auf Frauen in der Kölner Silvesternacht 2015 viele Verdächtige auf Videoaufnahmen identifiziert hatten, über sich, er sei ein sehr erfahrener Fahnder. Sein Wiedererkennungsvermögen war tatsächlich nur durchschnittlich ausgeprägt, wie Meike Ramon bei einem Test entdeckte. Die Professorin für kognitive Neurowissenschaften forscht im schweizerischen Lausanne zur Super Recognition und hat mit der Berliner Polizei eigens ein Verfahren entwickelt, Super Recognizer auszuwählen. Auch in Rheinland-Pfalz hat sie schon bei der Identifizierung geholfen.

Zurück zu den Antworten der Behörden: Danach gefragt, wie sie den Erfolg der Super Recognizer messen, nennen einige Pressestellen Zahlen, ohne sie ins Verhältnis zu setzen. „Im Zeitraum Mai 2021 bis März 2023 konnten die Frankfurter Super-Recognizer in über 1.400 Fällen Personen wiedererkennen, Taten zusammenführen und Ersuchen anderer Dienststellen erfolgreich bearbeiten“, schreibt das hessische Innenministerium. Wie viele Identifizierungen wären es ohne Super Recognizer gewesen? Unbekannt.

Andere stellen Beispielhaftes heraus: Bei der Aufarbeitung von Ausschreitungen in Stuttgart im Juni 2020 hätten Super Recognizer „wesentlich zur Identifizierung von rund 60 Tatverdächtigen beigetragen“, heißt es aus Baden-Württemberg. Nordrhein-Westfalen verweist auf einen Artikel, in dem die Polizei Anekdoten erzählt: „Bei einem Fußballspiel der Borussia identifizierte eine Super-Recognizerin nach wenigen Minuten einen Tatverdächtigen unter 20.000 Zuschauern.“

Das bayerische Innenministerium sagt, die Erfolge seien schwer zu messen, zumal die Identifizierung nicht zwangsläufig zur Aufklärung führe. „Jedoch“, schreibt der Sprecher, sei „das generelle Feedback durchweg positiv“. Überhaupt keine Daten gibt es zu Verurteilungsquoten, was folgerichtig ist: Das Wiedererkennen alleine stellt keinen Beweis dar. Müssen die Aussagen von Super Recognizern vor Gericht anders bewertet werden als die ihrer Kolleg:innen? Meike Ramon, die seit 17 Jahren zur Gesichtserkennung forscht, hält das für nicht ausgeschlossen: wenn klar sei, wie anders die Gehirne von Super Recognizern arbeiten.

Einsatz nur wenig durchdacht

Wie wenig durchdacht deren Einsatz in Deutschland ist, wie sehr sich Verantwortliche von einem „positiven“ Grundgefühl leiten lassen, zeigen weitere Antworten. So gibt es wissenschaftliche Belege, dass Super Recognizer genau wie Normal-Betrachter:innen Menschen unterschiedlich gut auseinanderhalten können, je nachdem, wie ähnlich sie ihnen sind: Weiße erkennen am besten andere Weiße wieder. Innenministerien und Bundespolizei negieren diesen „Other-Ethnicity Effect“. Bayerns Innenministerium behauptet gar, das Beispiel der Metropolitan Police London beweise das Gegenteil. Dort war 2015 die weltweit erste Super-Recognizer-Einheit eingerichtet worden – ihr Gründer selbst hatte aber stets öffentlich bedauert, dass seine Leute in dieser Hinsicht Schwächen hätten.

Und ob sie wirklich ein Verfahren haben, die richtigen Leute zu finden: Darüber denkt man in den Behörden offenbar nicht nach. Als „erprobt und praktikabel“ bezeichnet eine Sprecherin aus Sachsen die Massentestung, die an der Londoner University of Greenwich konzipiert worden ist, der Marktführerin in diesem Bereich, im Internet leicht zu finden. Deutsche Polizeidienststellen sind ihre Hauptkunden.

Hessen, Baden-Württemberg und Bayern wollen an dieser Methode festhalten, einzig Nordrhein-Westfalen arbeitet an einer neuen. Auch die Bundespolizei hat sich laut einer Sprecherin wiederholt für Greenwich entschieden „aufgrund dortiger Studienlagen und Untersuchungsmethoden“. Diese hätten „die derzeit größtmögliche Evidenz“. Auf die Frage nach Belegen verweist die Sprecherin auf eine online veröffentlichte Publikationsliste des Test-Instituts – ohne sagen zu können, wo sich die Evidenz verbirgt.

Die kann es gar nicht geben: Der Psychologie-Professor Josh Davis, der die Testreihe seit dem Jahr 2011 entwickelt hat, veröffentlicht deren wissenschaftliche Auswertung nicht. Seine Konkurrentin Meike Ramon macht ihm dies zum Vorwurf: „Wissenschaft bedeutet, dass Untersuchungen wiederholbar und damit überprüfbar sind.“ Dabei geht es ihr nicht einfach um die Wissenschafts-Ehre: Sie fürchtet um das Vertrauen in deutsche Behörden, wenn solche Prozesse intransparent sind. Keine aus der Luft gegriffene Sorge, wie das Beispiel der sächsischen Abgeordneten Juliane Nagel zeigt, der die Super Recognizer suspekt sind.

Im Gespräch erklärt Josh Davis, welche Testmethoden er bei der Super-Recognizer-Suche verwendet. Zehn bis elf seien es, sagt er, die meisten davon seine eigenen. Da müssen die Pro­ban­d:in­nen anhand von Bildmaterial erkennen, ob sie Gesichter schon einmal gesehen haben, oder ob es sich um ein und dieselbe Person handelt.

Meike Ramon kritisiert die fehlende Praxisnähe seiner Testreihe, genauso wie die britische Psychologie-Professorin Sarah Bate von der University of Bournemouth. Beide sagen auch, dass einige der verwendeten Tests nicht sensitiv genug seien – sogar Gesichtsblinde könnten dabei gut abschneiden. Beide fordern verbindliche Definitionen und Diagnosekriterien für die Identifizierung von Super Recognizern. Bei der Entwicklung ihres Tests für die Berliner Polizei haben Ramon und ihr Team Interviews mit Po­li­zis­t:in­nen in verschiedenen Abteilungen geführt, um zu verstehen, wo Super-Recognizer hilfreich sein können. Anschließend nutzten sie keine Bilder von gestellten Situationen, wie es Davis tut, sondern authentisches Material: Bilder also, mit denen die Super Recognizer später auch arbeiten würden, etwa Videoaufnahmen von Straftaten. „Wir wollten nicht die suchen, die im Labor gut abschneiden“, so Ramon, „sondern in der Praxis.“

Ob das funktioniert, untersucht sie jetzt begleitend zum Einsatz der drei Super Recognizer in einem einjährigen Modellprojekt des Berliner Landeskriminalamts. Ihr zuvor über fünf Jahre entwickelter Test „beSure“ wäre damit weltweit der erste wissenschaftlich validierte zur Identifizierung von Super Recognizern bei der Polizei. Ende des Jahres soll in einer Pressekonferenz eine Halbzeitbilanz gezogen werden. Auch in Rheinland-Pfalz hatte Ramon bei der Auswahl geholfen.

Dass es sinnvoll ist, Super Recognizer bei der Polizei einzusetzen, konnte Ramon in diesem Jahr als Erste nachweisen. Sie fand auch den ersten empirischen Beweis dafür, dass die von ihr identifizierten Po­li­zis­t:in­nen für eine Effizienzsteigerung sorgen. Dabei vermutet sie, dass Menschen in der Gesichtserkennung immer besser sein werden als Computer, weil diese manche Aufnahmen von Gesichtern gar nicht als solche klassifizieren können und extrem große Trainingsdatensätze brauchen. Anders als Josh Davis würde sie aber nie fordern, jede Polizei müsse Super Recognizer einsetzen: „Die Bedarfe einer Behörde können individuell variieren“, sagt Ramon. Sollte aber der oder die Richtige an der richtigen Stelle landen, könne das enorm motivieren: „Es ist toll, wenn man seine Fähigkeiten gut nutzen kann.“

Den Begriff „Super Recognizer“ prägten im Jahr 2009 Forschende zum Phänomen der „Gesichtsblindheit“: Davon Betroffene erkennen mitunter nicht einmal die Gesichter von Angehörigen.

Sie entdeckten, dass es auch das Gegenteil gibt: Personen, die sich Gesichter außergewöhnlich gut einprägen können. Man nimmt an, dass sich Gesichtsblinde und Super Re­cognizer an zwei Enden eines Spektrums befinden.

Wo diese Super Recognition beginnt, dafür gibt es keine Definition. Daher lässt sich auch nicht sagen, wie viel Prozent der Menschen über diese vermutlich angeborene Eigenschaft verfügen.

Die Wissenschaftlerin findet Super Recognizer interessant, weil diese ihr Einblicke ermöglichen in die Arbeitsweise menschlicher Gehirne, genauer: in deren Variabilität. Das sei Grundlagenforschung, sagt sie, die dabei helfe, individualisierte Ansätze etwa in der Medizin voranzubringen: Also nicht mehr alle gleich zu behandeln, ohne zu wissen, wie gut eine Therapie jeweils wirkt.

Bezahlt hat die Berliner Polizei Meike Ramon als Beraterin während der Entwicklungsphase. Ihre Tests sind kostenlos, anders als die aus England: Was die Greenwich-Testreihe kostet, verrät nur Sachsens Innenministerium. Demnach hat die Polizeidirektion Chemnitz 4.800 Euro gezahlt. Eigentlich müsste er noch mehr verlangen, sagt Davis, weil er keine finanzielle Förderung für seine Super-Recognizer-Arbeit bekommen habe. Daher untersuche er auch nicht, wie sich die von ihm identifizierten Deutschen entwickeln. „Ich habe das den Polizeibehörden angeboten, aber sie wollten dafür leider kein Geld ausgeben.“ Dass er so wenig veröffentliche, liege an zu wenig Zeit. Auf die Bedenken, seine Tests seien nicht geeignet, die Richtigen auszuwählen, entgegnete er 2020 in einem Aufsatz: „Ich bin pragmatisch: Kriminelle warten nicht, und Organisationen brauchen jetzt Super Recognizer“.

Diese Überzeugung teilt Davis mit Mike „Mick“ Neville, dem Gründer der ersten Super-Recognizer-Einheit bei der Metropolitan Police London. Sie arbeiten seit 2011 eng zusammen. Wer sich mit der Verbindung von Davis und Neville beschäftigt, kommt nicht umhin zu fragen, ob die deutschen Polizeibehörden mit dem richtigen Institut kooperieren. Ganz unabhängig vom wissenschaftlichen Wettstreit um die besten Tests.

So ist in Deutschland weitgehend unbekannt, dass die Londoner Einheit schon 2017 wieder aufgelöst wurde. Das hängt mit dem Ende von Mike Nevilles Polizeikarriere zusammen: Im Januar 2017 beschwerte er sich in der Boulevardzeitung Daily Mail darüber, wegen seiner politischen Ansichten aus dem Job gedrängt worden zu sein. Laut Medienberichten hatte Neville sich in sozialen Medien als Anhänger der rechtspopulistischen Ukip-Partei geoutet, gegen die Homosexuellen-Ehe und Sozialleistungen für Mi­gran­t:in­nen ausgesprochen sowie gegen die „trendy metropolitan Elite“ gehetzt.

Seitdem konzentriert sich Neville auf sein Unternehmen Super Recognisers International Ltd, kurz SRI. Laut Website vermittelt es Super Recognizer für die Überwachung von Personen und die Auswertung von Videoaufnahmen. SRI sei weltweit mit „militärischen Streitkräften“ vernetzt, heißt es auf der Seite, und dass britische Polizeibehörden ihre Dienste nutzten bei Ermittlungen in „Mordfällen und anderen schwerwiegenden Verbrechen“. Eine Sprecherin der Thames Valley Police, die als Referenz genannt wird, bestätigt die Zusammenarbeit. Die ebenfalls aufgeführte Metropolitan Police London hingegen sagt, sie arbeite weder mit Neville noch mit Davis zusammen.

Josh Davis wiederum hat einen Beratervertrag mit SRI, ein Hinweis findet sich auf seiner Website. Nicht ersichtlich ist dort, dass die Firma seine Arbeit sponsert – und Davis im Gegenzug Werbung für sie macht. Diese erhält, wer eine im Internet offen zugängliche Testreihe absolviert. „Aufgrund außergewöhnlich guter Ergebnisse“ habe sie sich „als eine der wenigen Personen qualifiziert, die eine Einladung zur Teilnahme an einer fortgeschritteneren Testreihe für Super-Recognisers International und die Association of Super-Recognisers erhalten“, erfuhr die Autorin dieses Texts. Ebenso, was ihr winke, wenn sie sich weiter testen ließe: SRI habe „in verschiedenen Teilen der Welt Voll- und Teilzeitarbeitsplätze für Super Recognizer gefunden“. Doch wer für SRI arbeiten will, muss erst mal die Testergebnisse bezahlen: 30 britische Pfund, etwa 35 Euro; wer nicht über die University of Greenwich kommt, zahlt doppelt so viel. Anschließend werden mindestens 240 Pfund fällig für einen „Trainings-Kurs“ – Voraussetzung für eine von SRI vermittelte Tätigkeit.

Der Abstand zu seriöser Wissenschaft wird noch etwas größer: Zertifiziert werden Test und Kurse von der – ebenfalls durch Davis beworbenen – „Association of Super Recognisers“. Das ist laut eigener Homepage ein „Fachverband“ und eine der „selektivsten und exklusivsten Organisationen der Welt“. Vorausgesetzt, man zahlt für Tests und Kurse, kann man dort über vier Stufen bis zum „Honorary Fellow“ aufsteigen, von „Chairman and Executive“ ausgewählt. Wer das ist? Auf der Seite fehlt jeglicher Hinweis, wer den Verband repräsentiert.

Fünf von sieben In­nen­mi­nis­te­rien und die Bundespolizei wissen nicht, ob ihre Super Recognizer überhaupt geeignet sind

Wissenschaft und Geschäftsinteresse

Den Geist des Geheimbündlerischen atmet auch die Verleihung der „Lizenzen“ durch die Association: Auf seiner Homepage verlinkt Josh Davis einen Artikel über eine solche „Zeremonie“, bei der er selbst einen Gastvortrag hielt: In den Londoner Räumen einer Freimaurerloge habe Schirmherr „Lord Lingfield“ die Urkunden überreicht. Der 80-Jährige engagiert sich im britischen Oberhaus gegen die Benachteiligung von Jungen.

Davis erklärt der wochentaz, warum Pro­ban­d:in­nen seiner Tests Werbung für SRI erhalten: Das Unternehmen finanziere die Auswertung der Tests durch seine Mit­ar­bei­te­r:in­nen und kümmere sich zudem um den E-Mail-Verkehr. „Das würden wir sonst nicht schaffen“. Sollte sich jemand stören an der Verquickung von Wissenschaft und Geschäftsinteresse, täte ihm das leid. Mit fünf Prozent schnitten ohnehin nur wenige so gut ab, dass sie die Einladung bekämen. Wer die Tests auf Englisch absolviere, bekomme neuerdings per Mail erklärt, wie selten Menschen aufgrund ihrer Super Recognition eingestellt werden, sagt er. Die meisten würden dort rekrutiert, wo sie arbeiten, etwa bei der Polizei.

Dennoch machen sich Menschen Hoffnung, aufgrund ihrer Gabe eingestellt zu werden oder in Kriminalfällen helfen zu können. Immer wieder bekäme sie Anfragen, ob sie dazu raten könne, sich von SRI „ausbilden“ zu lassen, erzählt Meike Ramon. Ihr seien keine Möglichkeiten bekannt, als Zi­vi­lis­t:in wegen einer Begabung als Super Recognizer eingestellt zu werden. „Es wäre verwerflich, fehlgeleitete Hoffnungen zu wecken.“

Josh Davis bescheinigt seinen Kri­ti­ke­ri:n­nen „eine Obsession mit der Test-Qualität“. Und zu skeptischen Äußerungen einer Linken-Bundestagsabgeordneten im August 2021 merkt er auf seiner Website an, dahinter stecke die Absicht, „die Öffentlichkeit zu verunsichern“. Fraglich ist, ob nicht eher eine Mischung aus Intransparenz und Auserwählten-Fantasien für Verunsicherung sorgt. Deutsche Behörden tragen dazu bei, wenn sie Fragen nicht beantworten können oder wollen, ebenso wie Medien, wenn sie Super Recognizer in die Nähe von Su­per­hel­d:in­nen rücken, die außerhalb des Gesetzes agieren.

Die sächsische Linken-Politikerin Juliane Nagel will unterdessen eine Idee aus Rheinland-Pfalz aufgreifen: Dort soll in einer der nächsten Sitzungen des Innenausschusses ein Super Recognizer seine Arbeit erklären. Ein Ausschussmitglied erzählt, das sei dem Innenminister im Juli nicht gelungen. Die Super Recognizer habe der aber super gefunden.