Menschen ohne Krankenversicherung: Im Osten was Neues

Die neue Arztpraxis für Menschen ohne Krankenversicherung in Lichtenberg hat gut zu tun. Im Ostteil der Stadt gibt es bislang kaum solche Angebote.

Im Osten Berlins leben viele Menschen, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben Foto: Manuel Geisser/imago

Berlin taz | „Was kann ich für Sie tun?“, fragt die ehrenamtliche Ärztin Lola Besselink in den Telefonhörer. Die Person am anderen Ende der Leitung übersetzt die Frage für die zwei Frauen, die Besselink gegenübersitzen, auf Ukrainisch. „Meine Mutter hat starke Halsschmerzen und erhöhte Temperatur“, antwortet eine der beiden Frauen ebenfalls auf Ukrainisch und zeigt auf die ältere Frau neben sich. Die Person am anderen Ende der Leitung übersetzt die Antwort für die Ärztin zurück ins Deutsche. Die fragt zurück: „Nehmen Sie irgendwelche Medikamente ein?“ Die Übersetzung über das Telefon läuft simultan im weiteren Gespräch.

Szenen wie diese gibt es regelmäßig in der Lichtenberger Ärz­t*in­nen­pra­xis open.med. Mitte Juni hat sie in der Nähe des S-Bahnhofs Lichtenberg auf fast 200 Quadratmetern eröffnet mit dem Ziel: eine Anlaufstelle für Menschen, die aus verschiedenen Gründen keinen Zugang zum staatlichen Gesundheitswesen haben, zu etablieren.

Das neue Projekt von „Ärzte der Welt“, einer weltweit agierenden Nothilfeorganisation ähnlich wie die bekannteren „Ärzte ohne Grenzen“, will so auch im Osten Berlins Sprechstunden anbieten für diejenigen, die keine Krankenversicherung oder Beitragsschulden haben, für Menschen, die im Asylverfahren sind oder nur mit einer Duldung in Deutschland leben, oder Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus.

Das Angebot verbreitet sich schnell: Als open.med an einem Montag im Juli um 11 Uhr die Türen öffnet, füllt sich das Wartezimmer in wenigen Minuten mit Menschen, die auf eine Beratung oder Behandlung warten. Susanne Eikenberg, ehrenamtlich arbeitende Ärztin, empfängt die Pa­ti­en­t*in­nen zuerst in einem kleinen, lichtdurchfluteten Zimmer hinter dem Empfang für eine Sozialanamnese. „Hierbei geht es darum, die persönliche Situation von Menschen zu erfassen und eventuell zu schauen, ob oder wie Menschen wieder ins Gesundheitssystem integriert werden könnten“, erklärt sie.

Anonymität wird garantiert

Alle Daten werden anonym gespeichert, alle Pa­ti­en­t*in­nen bekommen eine Nummer, falls sie planen, wieder in die Praxis zu kommen. Doch nicht nur für die Pa­ti­en­t*in­nen selbst ist die Datenerfassung gut, sondern auch um politisch etwas bewegen zu können. Laut Statistischem Bundesamt waren im Jahr 2019 rund 61.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert. Das Bundesamt bezieht diese Zahl aus Mikrozensus-Daten. „Das Problem hierbei ist, dass nur Menschen mit einer Anmeldung gezählt werden“, sagt Eikenberg. Die Zahl sei also nicht repräsentativ.

Ärzte der Welt gehe mittlerweile von mehreren hunderttausend Menschen aus, die in Deutschland keinen oder nur eingeschränkten Zugang zum Gesundheitswesen haben, so Eikenberg. Denn Menschen ohne Meldeadresse würden in der aktuellen Datenerhebung systematisch ausgeschlossen. Es sei deshalb umso wichtiger, anonymisierte Daten zu sammeln.

So hat die Organisation im Jahr 2022 Pa­ti­en­t*in­nen­da­ten aus ähnlichen Projekten in Deutschland ausgewertet und in einem Gesundheitsreport veröffentlicht: Demnach hatten von 1.071 Pa­ti­en­t*in­nen 76,9 Prozent keinen Versicherungsschutz. „Unser Ziel ist es, den Menschen, die zu uns kommen, einen Zugang zum Gesundheitswesen zu geben“, so ein Sprecher der Organisation auf taz-Nachfrage.

Behandlung und Medikamente sind kostenlos

Nach der Sozialanamnese kommen die Pa­ti­en­t*in­nen ins Behandlungszimmer. Weil nicht alle Pa­ti­en­t*in­nen Deutsch sprechen, greifen die Ehrenamtlichen in der Praxis häufig auf das Angebot von Triaphon zurück: Die medizinische Dolmetsch-Hotline bietet die Möglichkeit, Gespräche in neun Sprachen zu übersetzen. „Wir merken immer wieder, dass sich Pa­ti­en­t*in­nen viel wohler fühlen, in ihrer eigenen Sprache über ihre Schmerzen und Probleme zu sprechen“, erzählt Eikenberg.

Das ist auch für den Behandlungserfolg wichtig: An diesem Morgen schildert etwa ein Vietnamese seine gesundheitliche Lage detailliert in seiner Sprache. Die Ärztin schaut ihm in den Rachen, kontrolliert die Lymphknoten, wenige Minuten später verlässt er das Behandlungszimmer mit dem richtigen Medikament.

Denn nicht nur die Behandlungen sind hier für die Pa­ti­en­t*in­nen kostenlos, sondern auch die nötigen Medikamente. In einem Schrank findet sich vieles von Ibuprofen bis Schwangerschaftstests und Augentropfen. Für den Fall, dass ein Medikament nicht vorrätig ist, hat die Praxis eine Kooperation mit einer Lichtenberger Apotheke. „Dann können wir den Pa­ti­en­t*in­nen ein Privatrezept mitgeben, die Apotheke weiß Bescheid und schickt uns die Rechnung zu“, erklärt Eikenberg. Finanziert wird die Ausstattung der Praxis durch Spendengelder.

Da das Angebot neu ist, ist vieles noch im Findungsprozess: Aktuell kann etwa noch nicht genau abgeschätzt werden, welche Bedarfe es in welchem Maße gibt. „Wir überlegen, in Zukunft auch ein festes gynäkologisches Angebot zu etablieren“, erzählt Eikenberg: Platz dafür gebe es. Nur müsse man den Balanceakt hinbekommen, einerseits Hilfe und Behandlungen für alle anzubieten, andererseits den Bezirk nicht aus der Verantwortung zu nehmen, indem man „alles“ selber mache.

Großer Bedarf in Marzahn und Lichtenberg

Denn während eine ähnliche Praxis von Ärzte der Welt in München bereits aus öffentlichen Geldern mitfinanziert wird, ist der Bezirk Lichtenberg nicht in die Finanzierung von open.med involviert. Und dass, obwohl es kein Zufall ist, dass sich die Praxis in Lichtenberg befindet. Hier leben besonders viele Menschen, die erschwerten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben.

Durch die Moving Clinic, ein anderes Projekt der Ärzte der Welt, sei schnell klar geworden, dass es in Lichtenberg Bedarf für eine solche Praxis gibt, sagt Eikenberg. „Als wir in Lichtenberg und Marzahn unterwegs waren, haben wir gemerkt, wie viele Leute unser Angebot brauchen.“ Außerdem seien ähnliche Angebote wie von der Caritas und den Maltesern eher im Westen oder im Zentrum der Stadt zu finden, so Eikenberg.

Für die Zukunft wünscht sich die Ärztin ein breiteres Netz an Unterstützer*innen. Beispielsweise für den Fall, dass Pa­ti­en­t*in­nen längerfristige medizinische Behandlungen benötigen: „Wir bräuchten Fach­ärz­t*in­nen, die bereit wären, ein bis zwei unserer Pa­ti­en­t*in­nen pro Quartal in ihren Praxen weiter zu behandeln.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.