Zwangsverheiratung: „Gegenwehr braucht viel Kraft“
In den Sommerferien steigt für junge Frauen aus streng patriarchalischen Verhältnissen die Gefahr der Zwangshochzeit. Dazu eine Expertin im Gespräch.
taz: Frau Koch-Knöbel, in einer Woche beginnen die Sommerferien. Als Leiterin des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung haben Sie an alle Schulen und Freizeiteinrichtungen in der Hauptstadt Schreiben verschickt. Was ist der Inhalt?
Petra Koch-Knöbel: Die Befürchtung ist, dass junge Frauen in den Sommerferien in das Heimatland ihrer Eltern verbracht und dort zwangsverheiratet werden. Das passiert immer wieder. Die Schulen können bei uns Informationsmaterial und Handlungsempfehlungen abrufen. Wir, also der Arbeitskreis, machen diese Kampagne gegen Zwangsverheiratung schon seit vielen Jahren. In den Schulen wird die Gefahr, zwangsverheiratet zu werden, am ehesten deutlich, weil die Schüler*innen dort oftmals gezielt Hilfe und Beratung suchen. Keine Lehrkraft oder Schulsozialarbeiter*in wird damit allein gelassen, wir unterstützen auch persönlich.
Warum sind gerade die Sommerferien so gefährlich?
64, ist Gleichstellungsbeauftragte in Friedrichshain-Kreuzberg und Vorsitzende des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung.
Sechs Wochen Schulferien sind eine lange Zeit. Viele Familien nutzen sie dazu, in ihr Heimatland zu fahren. Als Folge der Coronazeit wird das jetzt möglicherweise noch verstärkter sein. Und wenn die von Zwangsheirat betroffene Schülerin erst mal in das Heimatland verbracht ist, haben wir ganz große Schwierigkeiten, sie zurückzuholen. Wir sprechen hier wohlgemerkt von Familien, die sehr starke patriarchale Strukturen haben.
Wie viele junge Frauen betrifft das in Berlin ungefähr?
Das wissen wir natürlich nicht. Ähnlich wie bei häuslicher Gewalt ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Wir werten im Moment gerade eine berlinweite Befragung von 2022 zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen aus, das Ergebnis liegt aber noch nicht vor.
Es ist nicht die erste Befragung dieser Art.
Wir führen zu diesem Thema seit 2005 in Kooperation mit der Frauensenatsverwaltung in größeren Abständen Befragungen durch. Die letzte fand 2017 statt. Da hatten wir 570 bekannt gewordene Fälle von Zwangsverheiratung und damit eine Steigerung um 24 Prozent im Vergleich zu 2013 – da waren es 460 Fälle. Bei bekannt gewordenen Fällen von Zwangsverheiratungen unterscheiden wir zwischen angedrohten, konkret geplanten und vollzogenen Zwangsverheiratungen.
Wie erklären Sie sich die Steigerung?
Ich vermute, dass liegt daran, dass das Hilfesystem in Berlin mittlerweile gut aufgestellt ist. Zwangsverheiratung ist kein Tabuthema mehr, weil die Beratungsangebote öffentlich gemacht werden. Immer mehr junge Menschen, auch männliche Jugendliche und Queers, suchen gezielt Unterstützung. Das ändert aber nichts daran, dass Zwangsverheiratung in sehr traditionell geprägten Familien immer noch ein Thema ist. Daran wird sich wahrscheinlich auch nichts Wesentliches ändern. Wir sind froh, wenn wir die Betroffenen über die Schulen und Freizeiteinrichtungen erreichen. Wobei Mädchen aus sehr stark patriarchalisch geprägten Verhältnissen wenig in Freizeiteinrichtungen vertreten sind.
Welche Herkunftsländer betrifft das am meisten?
Bei der Untersuchung 2017 konnten wir vor allem arabische Länder, vor allem aus Syrien, aus den kurdischen Gebieten der Türkei sowie den Balkanstaaten verzeichnen. Das betrifft schon Kinder ab zehn beziehungsweise zwölf Jahren. Bei dieser Altersgruppe handelt es sich eher um Roma-Familien, wo Kinder zum Teil schon sehr früh verheiratet werden. Der größte Anteil der jungen Frauen, die von Zwangsverheiratungen betroffen waren, war im Alter von 16 bis 21 Jahren. Bei jungen Männern waren es überwiegend 16- bis 17-Jährige.
Was raten Sie den Betroffenen?
Wir sagen klipp und klar, wenn ihr euch dagegen wehrt, kann das unter Umständen eine klare Trennung, den Bruch mit der Familie bedeuten. Das ist für die Betroffenen extrem problematisch. Sie wachsen sehr stark im Familienkontext auf, die Familie hat eine besondere Bedeutung. Es braucht viel Kraft, sich dagegen zu wehren; sich wirklich von der Familie zu trennen. Junge Frauen, die das tun, unterstützen wir auf allen Ebenen mit unseren Hilfsangeboten. Wir haben sehr viele Möglichkeiten und können sie auch bei starken Gefährdungssituationen in Westdeutschland geschützt unterbringen. Wir haben auch schon Paare untergebracht, die von den Familien bedroht wurden.
Wie oft geschieht das?
Wir haben solche Fälle vielleicht sieben, acht Mal im Jahr, wo junge Frauen direkt bei uns in der Beratungsstelle stehen und wir ad hoc tätig werden. Das Ganze läuft so ab, dass in der Regel zu Hause zuvor darüber gesprochen wird. Häufig werden die jungen Frauen mit wesentlich älteren Männern verheiratet, mit Cousins oder anderen Verwandten. Sie erfahren dann schon, dass die Hochzeit im Heimatland der Eltern geplant ist.
Zwangsverheiratung ist ein Straftatbestand, auf den bis zu fünf Jahre Haft stehen.
Wir versuchen auch immer wieder, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, erklären, dass Zwangsverheiratung ein Straftatbestand ist. Auch die Polizei kann in solchen Fällen eine Gefährderansprache machen. Das ändert aber nichts daran, dass die Mädchen innerhalb der Familie trotzdem gefährdet sind.
Wie helfen Sie Mädchen, die es nicht wagen, es zum offenen Bruch kommen zu lassen?
Wir raten ihnen dazu, eine Krankheit vorzutäuschen, um die Reise zu verhindern. Wir versuchen, sie auch mit einer anwaltlichen Vollmacht abzusichern. Das Mädchen erklärt in einer eidesstattlichen Versicherung, dass sie befürchtet, während der Ferien gegen ihren Willen verheiratet zu werden und ihr die Rückreise nach Deutschland unmöglich gemacht wird. Das ist sehr wichtig, sonst können wir wenig machen. Oftmals werden den Betroffenen Pass, Bargeld und Handy abgenommen.
Was ist die Schwierigkeit?
Projekte wie Papatya, die auch zum Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung gehören, arbeiten hervorragend zum Thema Verschleppung. Wir haben in verschiedenen Ländern mittlerweile Netzwerke. In manchen Fällen fahren wir auch hin und versuchen, die Mädchen zurückzuholen. Aber das gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Manchmal wissen wir nicht, wo sie sich aufhalten, weil ihnen das Handy weggenommen wurde und sie nicht kommunizieren können. Darum ist es sehr wichtig, dass die Abreise in das Herkunftsland der Eltern verhindert wird. Wir haben jungen Frauen auch schon geraten, ein Tränengasspray in die Handtasche zu stecken.
Wozu das?
Bei der Gepäckkontrolle am Flughafen wird das Tränengas festgestellt. In dieser Situation können sie sich an das Sicherheitspersonal vor Ort wenden und um Hilfe bitten.
Ist das schon vorgekommen?
In zwei Fällen konnten wir so am Flughafen noch eingreifen. Es gibt mittlerweile viele Kolleg*innen bei der Polizei, die sehr sensibel darauf reagieren. Für die junge Frau ist das vielleicht die letzte Möglichkeit, aus diesem Zwangskontext zu entkommen. Ausgehend von der Erhebung von 2017 fanden 87 Prozent der Zwangsverheiratungen im Ausland statt. Es gibt da wirklich abenteuerliche Fälle.
Haben Sie ein Beispiel?
Einmal gab es einen Vorlauf von drei Monaten. Die junge Frau wollte und durfte ihre Ausbildung noch zu Ende machen, bevor sie ins Ausland verheiratet werden sollte. Die ältere Schwester war schon gegen ihren Willen verheiratet worden. Sie hat dann in den drei Monaten immer mehr persönliche Sachen bei mir im Büro deponiert. Papiere und so weiter. Als sie ihr Zeugnis in der Hand hielt, habe ich sie sofort in ein Frauenhaus in Westdeutschland gebracht.
Zwangsverheiratung ist in Deutschland seit 2011 verboten. Das Gesetz gegen Kinderehen gibt es seit 2017. Auch im Ausland geschlossene Ehen von Minderjährigen werden in Deutschland seither nicht anerkannt. Warum kam das alles so spät?
Früher gab es die Regelung, dass Minderjährige in Ausnahmefällen heiraten konnten, wenn beide das wollten und die Eltern und auch das Jugendamt einverstanden waren. Ob deutscher oder migrantischer Herkunft, spielte dabei keine Rolle. Das ist jetzt generell verboten. Das Mindestalter ist 18 Jahre, ohne Ausnahme. Auch in der Flüchtlingskrise 2015 gab es viele Fälle, wo geflüchtete Mädchen oder junge Frauen vorher oder auch während des Aufenthaltes in Deutschland noch zwangsverheiratet worden waren. Da waren sich alle einig, dass man das ändern muss. Auch die sogenannten Imam- Ehen …
… religiös geschlossene Ehen …
… dürfen nicht mehr stattfinden. Ich kann mir gut vorstellen, dass das nach wie vor passiert. Religiöse Eheschließungen haben bei vielen Familien mit sehr traditioneller patriarchaler Migrationsgeschichte eine größere Bedeutung als die standesamtliche Eheschließung. Ich wage da keine Prognose abzugeben.
Familien mit sehr starken patriarchalen Strukturen müssten in den Schulen eigentlich bekannt sein.
In der Regel ist das so. Es ist aber auch schon häufiger vorgekommen, dass Eltern aus den betroffenen Gruppen abgewartet haben, bis die Sommerferien anfangen, um ihre Töchter von der Schule abzumelden. Das ist dann höchste Alarmstufe für uns, tätig zu werden. Es gibt aber auch Mädchen, die diesem Druck, den die Familie ausübt, einfach nicht standhalten können.
Wie meinen Sie das?
Sie beugen sich im Sinne: Das ist bei uns Tradition, auch bei meinen Schwestern war es so. Ich kann es nicht ändern, oder ich will es auch nicht ändern.
Dann sind Sie machtlos?
Ja. Auch wenn wir das Schicksal kommen sehen, alle genau wissen, was passiert, können wir wenig tun. Sie kommen dann oftmals nicht aus den Ferien zurück. Wenn die Mädchen 15, 16 Jahre alt sind und möglicherweise auch schon einen Freund hier hatten, wird es wirklich schwierig. Nicht nur das Mädchen ist gefährdet, auch der Junge. Wir hatten gerade erst wieder so einen Fall.
Wie ist das Ganze ausgegangen?
Wir haben beide Jugendliche, sie sind 17 und 18, über eine Jugendhilfemaßnahme in Westdeutschland gemeinsam geschützt untergebracht. Sie waren beide massiv von der Familie des Mädchens bedroht worden. In einem ähnlich gelagerten Fall war auch die Polizei involviert.
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