Klimakrise in Brasilien: Schlammige Ungleichheit
Bei einer Starkregen-Katastrophe an der Südostküste verloren mehr als 2.000 Menschen im Februar ihr Zuhause. Viele warten bis jetzt auf Entschädigung.
D ie Idylle ist trügerisch. Funkelnd senkt sich die Sonne am Horizont, sanfte Wellen rauschen am Strand von Juquehy, ein Ortsteil von São Sebastião. An der brasilianischen Südostküste im Großraum von São Paulo boomt der Tourismus, gestresste reiche Großstädter bezahlen hier für eine Ferienwohnung gerne mal 700 Euro pro Nacht.
Ein paar hundert Meter vom Strand entfernt ist dieser Traum eine bittere Illusion. Die 17-jährige Nathiele Santos steht vor den Trümmern ihrer Schule. Schlamm und Fluten haben den Großteil der Klassenzimmer zerstört. Denn vor inzwischen mehr als vier Monaten hat es hier in kurzer Zeit so stark geregnet wie noch nie seit brasilianischer Wetteraufzeichnung, mehr als 700 Millimeter in sechs Stunden. Das ist mehr Niederschlag als in Berlin in einem ganzen Jahr. Die Katastrophe ließ über 2.000 Menschen mit Häuserruinen und mehr als 60 Todesopfer zurück, hauptsächlich in den ärmeren Teilen der Stadt. Eine Zerstörung, mit der die Leute vor Ort noch immer zu kämpfen haben.
Im Gegensatz zu den meisten Villen am Strand hat an Nathiele Santos’ Schule noch niemand aufgeräumt. Die Schule liegt an einem der für die Region typischen, unbefestigten Abhänge: Zwischen dichtem Wald und Abhang sind hier durch den Regen Massen an unbefestigter Erde abgesackt und haben Teile der Gebäude mitgerissen. Als die Fluten kamen, fiel die Schule für die 17-Jährige drei Wochen lang aus. Dabei hätte sie sich eigentlich für die Aufnahmeprüfung an der Universität vorbereiten müssen. Inzwischen läuft der Schulbetrieb wieder, allerdings eingeschränkt, denn ein Teil der Schulgebäude und der Pausenhof sind nicht nutzbar, voll von Morast, alten Gebäudeteilen und Gestrüpp. „Wir mussten während dem Unterricht und in der Mittagspause auf dem Boden sitzen“, sagt Santos.
Nathiele Santos wird, so gut es geht, weiterlernen. Ihr Ziel: ein Jura-Studium in São Paulo, sie wäre die erste der Familie, die studiert. Ihre Mutter arbeitet in den Villen am Strand als Haushälterin. Menschen wie sie erhalten den Tourismus vor Ort. Und es sind vor allem sie, die im Februar viel verloren haben.
Nicht die erste Katastrophe
Der Starkregen kam für Nathiele Santos und ihre Familie wie aus dem Nichts. Sie wachte um vier Uhr morgens auf, als Schlammmassen und Wasser das Haus ihrer Familie fluteten. Am Hang gelegen, hatte es gegen den Erdrutsch keine Chance. „Am Anfang dachte ich, dass ist der gleiche Regen wie sonst auch immer an Karneval. Und dann kam immer mehr Schlamm und Regen, und wir hörten Leute um Hilfe schreien.“ Als sie aus dem Fenster schauten, waren die fünf Häuser um sie herum schon komplett zerstört. Sie hatten Angst, dass jeden Moment die Decke einstürze. „Ich wusste nicht, ob Freunde und Verwandte überleben. Es war furchtbar.“
Ein paar Kilometer von Santos’ Heimatort entfernt sitzt Katastrophenforscher und Meteorologe Marcelo Seluchi in seinem Büro. Er arbeitet für den nationalen Frühwarnungsdienst Cemaden, der für Risikoprävention bei Naturkatastrophen zuständig ist. Es ist nicht das erste Interview, das er als Experte zu der Tragödie von São Sebastião führt. Der Metereorologe meint, sie hätten ungefähr zwei Tage vorher gewusst, dass sich die Kaltfront über dem Ozean in einen überdurchschnittlichen Zyklon verwandeln würde. Daraufhin hätten sie die Stadtverwaltung von São Sebastião benachrichtigt.
Zwar versuchten Verwaltung und Katastrophenschutz, die Bewohner vorher per SMS zu warnen, doch die meisten hatten schon kein Netz oder Internet mehr – deswegen kamen keine Nachrichten an. Andere Vorwarnsysteme gab es keine. Rettungskräfte kamen zudem tagelang nicht durch, weil Regen und Erdrutsche die Straße versperrt hatten, überließen die zahlreichen Verletzten und Vermissten erst mal sich selbst.
Auf Anfrage der taz, inwiefern die Stadt bessere Maßnahmen hätte treffen können, schrieb die Sprecherin des Bürgermeisters: Auf so eine Katastrophe könne man sich nicht vorbereiten. Und als Bürgermeister Felipe Augusto in einem Interview gefragt wurde, warum man in den Ortsteilen keine Sirenen zur Warnung installiert hätte, antwortete er gereizt: „Seit wann retten Sirenen Leben?“
Seluchi widerspricht dem Bürgermeister. Sirenensysteme hätten bei anderen Naturkatastrophen in Brasilien schon gute Dienste geleistet: „Es gab eine Reihe von Versäumnissen, die sich auf die schlimmste Weise ergänzten – durch den Karneval war der Katastrophenschutz nicht so gut ausgestattet wie sonst, zum Beispiel.“ Die Hauptprobleme ließen sich nicht in kurzer Zeit lösen, das ist neben der Klimakrise auch die soziale Verletzlichkeit.
Die Fluten vom 18. Februar – sie sind nicht Brasiliens erste Naturkatastrophe an der gut bevölkerten Küste. São Sebastião ist nur ein Extrembeispiel: Die Stadt, ein Konglomerat aus Küstenorten mit einer Länge von insgesamt 100 Kilometern, platzt aus allen Nähten. In den letzten 40 Jahren hat sich die Einwohnerzahl hier vervierfacht. Und die Menschen mit irregulärem Wohnstatus, die an den unbefestigten Hängen wohnen, sind hier doppelt so viele wie im nationalen Durchschnitt. Wohn- und Klimakrise machen hier die brasilianische Schere zwischen Arm und Reich sichtbar wie kaum wo sonst.
Tragödien und Solidarität
Brasilien gehört zu den ungleichsten Ländern der Erde. In São Sebastião bedeutet das: viele reiche Großstädter und eine arme Minderheit, die für sie arbeitet. Ihre Häuser sind in unbefestigten Zonen an Hängen errichtet, weil sie die teuren Böden, die Behördenauflagen und die Kosten für den brasilianischen Bürokratiedschungel nicht bezahlen können. Bis in die 70er Jahre hinein lebten noch die Caiçara, Indigene, an den Stränden. Im Zuge des Baus einer Autobahn von Rio de Janeiro an den Strand in São Paulo wurden sie teils gewaltvoll vertrieben. Der Streifen zwischen Bergen und Meer ist schmal und dadurch teuer.
Wenn der Tourismus in São Sebastião floriert und immer mehr wohlhabende Menschen ihre Häuser in der beliebten Region errichten, wird der Boden gleichzeitig immer teurer. Und es bleibt weniger Platz und Wohnort für Minderheiten. „Leider hat die Politik diese Situation lange ignoriert. Und heute haben wir zehn Millionen Menschen im ganzen Land, die in Risikozonen leben, Tendenz steigend. Es ist eine untragbare Katastrophe“, sagt der Klimaforscher Seluchi.
Dort, wo Marina Ferreira Ferien macht, gibt es keinen Schlamm mehr, dabei liegt ihr Haus nur ein paar Ortschaften von Nathiele Santos Haus entfernt. Die 21-jährige Studentin aus São Paulo kommt gerne an den Wochenenden nach São Sebastião, ihre Familie hat sich vor zehn Jahren unweit des Strandes ein Ferienhaus gekauft. Zwar standen auch hier die Straßen im Februar unter Wasser, liefen die teuren Autos voll mit Schlamm. Aber Portier, Gärtner und weitere Angestellte haben sich schon längst darum gekümmert, dass alles wieder ordentlich ist. Nun sitzt Ferreira im Haus ihrer Familie im gutbürgerlichen Stadtteil Perdizes in São Paulo, nach einem Tag an der Uni, sie studiert öffentliche Verwaltung.
Wenn Ferreira an die Tragödie zurückdenkt, denkt sie vor allem an Solidarität. Als sie hier im Februar Urlaub machte und es stark zu regnen anfing, sagte sie die Karnevalsparty, zu der sie mit ihren Freund:innen gehen wollte, ab. Sie harrte während der Katastrophe im Haus aus. Sobald man wieder nach draußen konnte, half sie einer Nichtregierungsorganisation, Kleider, Decken und Lebensmittel an Betroffene zu verteilen.
„In meinem engen Umfeld haben alle geholfen“, erzählt sie. Doch sie kenne auch Leute, die im Angesicht der Katastrophe einen Helikopter mieteten oder mit ihrem eigenen in die Stadt flohen. Sie selbst fuhr fünf Tage nach der Tragödie, als die Straßen wieder mehr oder weniger frei waren, mit ihrer Familie zurück nach São Paulo. Ein paar Wochen später sei sie mal wieder in der Stadt gewesen, am Strand, und habe sich dort mit der Haushälterin unterhalten. „Die meinte, die Stadtverwaltung hat schon gut geholfen, damit die Leute nicht auf der Straße schlafen müssen.“
Zwar hat die Stadt viele obdachlos Gewordene in einer öffentlichen Einrichtung untergebracht, lokalen Gruppen zufolge sind jedoch noch über 1.000 Menschen ohne Wohnung, schlafen auf öffentlichen Plätzen und am Strand. Die Stadt weist diesen Vorwurf auf Anfrage der taz von sich. Vier Monate nach der Katastrophe sind zahlreiche Häuser noch immer einsturzgefährdet. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen regnet es immer noch sehr regelmäßig, die Bewohner könnten einer erneuten Tragödie ausgesetzt sein.
Laut der Stadtverwaltung sind Aufräumtrupps des Katastrophenschutzes noch vor Ort. Doch Einheimische beschweren sich, dass ihnen beim Aufbau der Straßen und ihrer Häuser niemand hilft. Das Wasser aus den Leitungen ist eine braune Brühe. An einigen Türen hängen rote knallige Schilder der Stadtverwaltung: Das Betreten der Gebäude ist hier verboten.
Nathiele Santos Familie hat inzwischen eine neue Unterkunft gefunden. Die Miete können sie sich jedoch kaum leisten: Knapp 300 Euro für wenige Quadratmeter, und das, während ihre Mutter gerade ihre Arbeit verloren hat. Die Stadtverwaltung übernimmt zwar einen Teil der Miete, doch das reicht nicht. Die Schülerin musste selbst arbeiten gehen und fehlte eine Woche in der Schule, um Geld für die Miete zu verdienen. Und es könnte sein, dass Familie Santos auch dort nicht sicher ist. Das Haus liegt in der Nähe eines Wasserfalls, der bei einem erneuten Starkregen leicht über die Ufer treten könnte. In den Plänen der Stadtverwaltung gilt das Gebiet allerdings als sicher. Sie und andere halten die Einteilung für willkürlich, viele fordern eine Entschädigung für ihr Haus und Terrain. Eine Anfrage an den Katastrophenschutz dazu blieb unbeantwortet.
Dabei blieben Staat und Stadt nicht untätig. In den Tagen nach der Katastrophe besuchten Bürgermeister, Gouverneur und sogar Präsident Lula da Silva den Ort des Unglücks. Über eine Million Euro flossen von Staat und Land an die Stadt, um die betroffenen Gebiete wiederaufzubauen, dazu kamen fast sechs Millionen Euro an Geldspenden. Die Stadtverwaltung brachte viele Familien in provisorischen Wohnungen im Nachbarort unter, bezahlte mit Spendengeldern die Unterkünfte für Familien in Pensionen.
Und sie plant über 700 Wohnungen für die Familien in den unbefestigten Gebieten, schon in wenigen Wochen sollen sie fertig sein. Einige der Häuser sind Sozialwohnungen und Teil eines nationalen Projekts von Präsident Lula, der in den nächsten Jahren über zwei Millionen neue Wohnungen in ganz Brasilien bauen will. Der Antrag dafür ging gerade erst durch den Nationalkongress.
Doch viele sind alles andere als zufrieden. Nathiele Santos sagt, sie findet es gut, dass der Präsident an den Tagen nach der Katastrophe vor Ort war: „Aber er kam nicht zu uns – er hat den falschen Leuten zugehört.“ Damit meint sie vor allem den Bürgermeister Felipe Augusto – denn der hat gerade bei den Ärmeren nicht viele Freunde. Sie spekulieren, ob er mit den Spendengeldern seine nächste Wahlkampagne finanzieren wird. Die Schlagzeilen zu Augusto häufen sich, zurzeit läuft ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, weil er Gelder während der Covid19-Pandemie veruntreut haben soll.
Und auch hier haben viele das Gefühl: Das Geld wird für die falschen Projekte verwendet. Anstatt deren Wohnungen wiederaufzubauen, mussten einige betroffene Familien umsiedeln. Sie sollen bald nur wenige Meter weiter, in einem der neuen Wohnkomplexe, wohnen. Das Gebiet ist aber noch immer voll von Morast und knöcheltiefem Wasser. Die Stadtverwaltung und die staatliche Wohnungsbauagentur wollten es trockenlegen: Inzwischen werden auf dem noch immer feuchten Boden die ersten Häuserplatten aneinandergesetzt. Mit schmalen Zwischenräumen – viel Platz werden die Familien hier nicht haben.
Eine, die das lautstark kritisiert, ist Rosilene de Jesus Santos. Sie wohnt seit 30 Jahren im ärmsten Stadtteil São Sebastiãos, Vila Sahy. „Niemand hat uns gefragt, ob wir unsere Häuser aufgeben wollen und dort gegen Miete mit unseren Familien auf 40 Quadratmetern wohnen wollen“, sagt sie. Der Standort sei ungeeignet, der Fluss direkt neben dem Neubauprojekt werde das Haus bei der nächsten Flut genauso mitreißen. Wie viele der hauptsächlich Schwarzen Bevölkerung aus dem Nordosten Brasiliens kam Santos in die Region, weil es hier Arbeit gab: Ihr Mann war bis zu seinem Tod als Maurer tätig, sie als Köchin. Ihr Haus bauten sie selbstverständlich in die irreguläre Zone, obwohl sie wussten, dass es hier leicht feucht werden kann. Aus Mangel an Alternativen.
In Santos’ Stadtteil kann man die Ungleichheit besonders stark sehen: Die Hauptstraße trennt den reichen und den armen Teil des Küstenabschnitts. Links von der Straße die steilen Hänge mit Hütten, rechts die Villen, der Strand. „Ich spreche für unsere Gemeinschaft, wenn ich sage: Langsam glauben wir, dass wir es nur wert sind, auf die andere Seite zum Arbeiten zu gehen. Wir sind es nicht wert, dort zu wohnen.“
Die Köchin nennt das Umweltrassismus. „Denn die meisten reichen und weißen Leute können genauso wohnen wie vorher.“ Auch die Umweltorganisation Greenpeace nutzt dieses Wort, sie fordert von der brasilianischen Regierung, „mit diesem kolonialistischen Erbe“ zu brechen und die schwarze und indigene Bevölkerung vor Ort an den Plänen zu Risikomanagement und Katastrophenschutz zu beteiligen.
Die Benachteiligung ist nicht nur am Wohnort sichtbar, sondern auch in der Infrastruktur, im Arbeitsleben, in der Bildung. Rosilene de Jesus Santos hat mit der Flut ihren Job verloren. Das Restaurant, in dem sie als Köchin arbeitete, kann sie nicht weiter beschäftigen: Es fehlt offenbar das Geld, das sonst die Karnevalstouristen gebracht hätten. Denn Februar ist Hochsaison hier an der Küste: Es ist der wärmste Monat, es sind Ferien, und an allen Ecken finden Karnevalspartys statt. Diesmal blieben die Touristen wegen des Regens fern – oder flogen mit ihren Helikoptern davon, als São Sebastião im Chaos versank.
Rosilene de Jesus Santos blieb. Wenn sie sich die Bilder der Tragödie wieder vor Augen ruft, versagt ihre Stimme kurz. Sie hat viele Angehörige und Freunde verloren, mit eigenen Augen gesehen, wie sie im Schlamm ertranken. „Als ich mein Haus verließ, strömten die Scharen meiner Nachbarn mit mir Richtung Strand, weg von den Erdrutschen. Und in den Gesichtern sah ich überall den gleichen Ausdruck: Verzweiflung, und Unwissenheit darüber, wie es jetzt weitergehen soll“, erinnert sie sich.
Rund 70 Dorfbewohner, darunter auch die Köchin, halfen sich selbst. Sie sammelten sich im Kinderhort, die Mutter von drei Kindern kochte zehn Tage für die anderen mit Resten und Spenden. Denn auch die Versorgungswege, unter anderem die Straße nach São Paulo, waren durch den Schlamm verschüttet und gesperrt. Die Bewohner organisierten Suchtrupps, sammelten Essen, versorgten Verletzte provisorisch. Auch viele aus den Villenvierteln kamen und halfen, eine Psychologin erklärte sich bereit, stark Traumatisierten zuzuhören. Mit jedem Tag stieg der Frust: vorrangig auf die Stadtverwaltung, die sie nicht vorgewarnt hat. Die seit Jahren ohnmächtig der Urbanisierung, der Immobilienspekulation und den wachsenden Favelas zusieht. Dass dort mehrstöckige Wohnkomplexe errichtet werden, wo jetzt schon niemand wohnen will, sehen die meisten Bewohner kritisch.
Marina Ferreira kann den Frust verstehen: Sie findet, es wird zu wenig getan. Und auch sie ist der Meinung, dass Hochhäuser am Strand seltsam aussehen würden und kein würdiges Wohnen für die Betroffenen darstellen. Einige Ideen des Gouverneurs für neue Wohnprojekte findet sie aber gut.Und sie glaubt, dass viele zu kritisch sind mit den Leuten, die helfen wollten. Sie sieht die Schuld nicht bei der Stadtverwaltung, sondern bei der sozialen Ungleichheit. „Die sorgt eben dafür, dass die einfacheren Leute in der Nähe des Hanges wohnen. Weil das das ist, was für sie übrig bleibt.“
Meteorologe Marcelo Seluchi kann sich Hochhäuser im Risikogebiet São Sebastião ebenfalls nicht vorstellen. „Bei diesen Gebieten handelt es sich um unbefestigte Ebenen, die sich von den Bergen gelöst haben und in tiefer gelegene Gebiete abrutschen. Das muss man sich sehr gut überlegen, ob man dorthinein ein Hochhaus bauen kann.“ Auf die Frage der taz, ob es schon ein Umweltgutachten dazu gebe, wollten weder staatliche Wohnungsbauagentur noch Stadtverwaltung Auskunft geben. Letztere teilte allerdings mit, dass sie darauf Wert lege, dass die Häuser aus einem besonders widerstandsfähigen Holz gebaut werden sollen.
Als die Familien während der Flut im Kinderhort zusammensaßen, beschlossen sie, sich zu wehren. Rosilene Jesus de Santos ist seitdem gewählte Vertreterin des Dorfbeirats, der „Vereinigung der Betroffenen“. Sie und neun andere vertreten diejenigen, die die Regenfälle am stärksten mitgenommen haben, tragen ihre Kritik, in Form von Bildern ihrer zerstörten Häuser und Schulen, auf Social Media und in die Welt hinaus. Sie wollen mehr Struktur, fordern eine Studie über die Versäumnisse der Verwaltung und die geologische Lage.
Zwei Monate nach der Tragödie standen sie vor dem Rathaus und protestierten. Es war auch ein Gesprächsangebot, eine Aufforderung, endlich den Problemen der Leute zuzuhören. Doch die Türen des Rathauses blieben verschlossen, die Stadt reagiere nicht auf jegliche Kontaktversuche, beschweren sich die Aktivist:innen. Auch eine Nachfrage der taz an die Stadtverwaltung blieb unbeantwortet.
„Es ist keine Tragödie, es ist ein Verbrechen“
Trotzdem geben die Betroffenen nicht auf. An einem Tag im Mai, inzwischen ist die Tragödie schon mehr als drei Monate her, versammeln sich Menschen mit bunten Transparenten im Auditorium im Landtag des Staats São Paulo. Auf den Schildern stehen Sprüche wie: „Es ist keine Tragödie, es ist ein Verbrechen.“ Die Stimmung ist aufgeheizt. Einmal unterbricht eine Frau eine der Reden. Sie hat zwei Literflaschen mit braunem Brackwasser in der Hand. „Das ist das Wasser, mit dem ich mich duschen soll!“, ruft sie empört. Mehrere Leute nicken zustimmend.
Aber es liegt auch Hoffnung in der Luft: Denn vorne am Rednerpult treten nicht nur die Ortsbeirate mit ihren Protestreden auf, sondern es sind auch Abgeordnete verschiedener Parteien des Ausschusses für Wohnungsbau, Entwicklung und Stadtreform des Landtages anwesend, die zuhören und zustimmen.
Die Abgeordnete Marine Lou, rosa Anorak, die Haare zu einem lockeren Zopf gebunden, ergreift das Wort: „Ich sehe, dass es da unterschiedliche Ansichten gibt, darüber, was im Februar in São Sebastião passiert ist“, vermittelt sie. „Aber die Bilder und Videos zeigen ein sehr klares Bild: Die Stadtverwaltung setzt die Leute in Risiken und wird ihrer Verantwortung nicht gerecht. Wir werden für mehr Klimagerechtigkeit kämpfen!“ Die Grünen-Politikerin kommt aus der gleichen Partei wie die brasilianische Umweltministerin Marina Silva und will sich dafür einsetzen, dass die Schulen schneller wieder aufgebaut werden, damit kein Remote-Unterricht aus kaputten Häusern stattfinden muss. Und dafür, dass mehr bezahlbarer sozialer Wohnraum für die Leute aus den Risikozonen geschaffen wird. Auch eingeladen, aber nicht erschienen zu dem Event sind Vertreter der Stadtverwaltung und der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft, die für den Bau der 700 Wohnungen verantwortlich sind.
Neben dem Wunsch nach mehr Maßnahmen dringt hier vor allem eines durch: der Ruf nach mehr Demokratie und Transparenz. Es soll nicht nur geholfen werden, endlich gegen die Folgen der Flutkatastrophe zu kämpfen, sondern es soll sich mit den Ursachen auseinandergesetzt werden. Die Parlamentarier wollen einen Antrag auf eine öffentliche Anhörung und einen Untersuchungsbericht stellen, um mehr Klarheit über die Wohnsituation und die Wasserqualität vor Ort zu bekommen. So will man sich besser auf die nächste Krise vorbereiten.
Ob ihre oppositionellen Forderungen von der Landesregierung angehört werden, ist jedoch fraglich. Ein weiteres Wohnungsprojekt des Gouverneurs Tarcísio de Freitas, der von einigen schon als neuer konservativer Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, steht gerade zur Abstimmung, auch hier werden die kritischen Stimmen bisher nicht angehört. Doch auch die Leute aus Vila Sahy werden nicht leise bleiben: Sie wollen eine Doku drehen, von ihren Erfahrungen erzählen und weitere Aktionen planen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Rosilene de Jesus Santos hält keine Rede, aber sie sitzt im Publikum und hört zu und nickt manchmal. Aus ihrer Stimme ist nicht mehr nur Verzweiflung herauszuhören, sondern auch Hoffnung, als sie sagt: „Weißt du, wir sind echt stark, wir überleben, indem wir uns gegenseitig helfen, weil wir eine Gemeinschaft sind. Wir halten uns gegenseitig auf den Beinen.“
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