Strafverfolgung im Ukraine-Krieg: Kriegsverbrechen beweisen
Die EU-Justizbehörde eröffnet ein Zentrum zur strafrechtlichen Verfolgung des russischen Angriffskriegs. Das Beweismaterial sei bereits „riesig“.
Seit Anfang 2022 gibt es internationale Bestrebungen, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine strafrechtlich zu verfolgen. EU-Justizkommissar Didier Reynders sprach bei einer Pressekonferenz in Den Haag von einem „wichtigen Schritt im weltweiten Kampf gegen Straflosigkeit“. Eine so schwerwiegende Verletzung der Charta der Vereinten Nationen dürfe nicht toleriert werden.
Nach dem Kriegsverbrechen von Butscha hatte Reynders von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im Frühjahr 2022 den Auftrag erhalten, in der Ukraine begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen. Begonnen hatten die gemeinsamen Anstrengungen bereits mit einem Treffen im März 2022 auf Anregung Polens, Litauens und der Ukraine. Wenig später standen diese Staaten an der Basis eines Joint Investigation Teams (JIT), dem im Mai 2022 Estland, Lettland und die Slowakei beitraten. Rumänien folgte im vergangenen Oktober.
Neben den Teams arbeitet das Zentrum, das von Eurojust finanzielle und logistische Unterstützung erhält, mit der US-amerikanischen Justiz sowie mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zusammen. Der in Den Haag anwesende Chefankläger des Gerichts, Karim Khan, erklärte diesen Schritt damit, dass Partnerschaften mit Staaten und Zivilgesellschaft nötig seien, um dem Römischen Statut und dem Prinzip der Haftung zur Geltung zu verhelfen. „Wir sind nicht auf der Seite der Ukraine, sondern auf der Seite der Gerechtigkeit“, betonte Khan. Die Gründung des ICPA sei in diesem Sinne der Beginn eines Prozesses.
Dass an dessen Ende ein Tribunal stehen soll, steht außer Frage. Ob dies am Internationalen Strafgerichtshof oder vor einem Gericht nach nationaler Rechtsprechung geschehen wird, ist noch unklar. „Die Art des Tribunals ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht wichtig“, so Eurojust-Präsident Ladislav Hamran. Wichtig sei aber, dass die Ermittlungen beginnen. „In der Vergangenheit war dies immer erst nach einem Konflikt der Fall. Dies ist das erste Mal, dass es anders ist.“ Bei der Arbeit des ICPA handelt es sich um die ersten Ermittlungen im Fall eines Angriffskrieges seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Beweismaterial, so Hamran, sei „riesig“.
Lücken müssen identifiziert werden
Dieses zu sichern und in einem zentralen Ort zugänglich zu machen, ist die Hauptaufgabe des neuen Zentrums unter dem Dach von Eurojust. Grundlage ist die Core International Crimes Evidence Database (CICED), die bereits seit Februar in Betrieb ist. Dort wird das von Mitgliedstaaten bereitgestellte Beweismaterial gesammelt, um dann eine Anklagestrategie zu entwerfen und einen strafrechtlichen Fall vorzubereiten.
Genau darum, so Hamran, sei es auch wichtig, mit dem Sammeln von belastendem Material nicht länger zu warten. Bei seiner Analyse müssten zudem mögliche Lücken in der Beweisführung identifiziert und das gesamte Material auf Ukrainisch und Englisch übersetzt werden, um es einem Gerichtshof zur Verfügung stellen zu können.
In den letzten Wochen sei bereits aus zehn Staaten Material übermittelt worden, so der Eurojust-Präsident. Laut Kenneth Polite, der als Staatsanwalt das ebenfalls mit dem ICPA kooperierende US-Justizministerium in Den Haag vertrat, sei auch von dort bereits der erste Beitrag eingegangen. Der ukrainische General-Staatsanwalt Andriy Kostin sagte, seine Behörde habe bislang „mehr als 93.000 Fälle von Kriegsverbrechen“ sowie 347 Verdächtige ermittelt. Strafverfolgung müsse allerdings auf die höchsten Ränge der politischen und militärischen Führung abzielen, betonte er. Daher sei „ein ordentliches Tribunal wichtiger als ein schnelles“.
Das ICPA-Zentrum, das Ursula von der Leyen bereits im Februar angekündigt hatte, bedeutet für das internationale Recht nun in mehrerer Hinsicht Neuland. Nicht nur, weil es seine Arbeit inmitten des betreffenden Konflikts aufnimmt, sondern auch, was den Anklagepunkt des Angriffskriegs betrifft. „In der Architektur des internationalen Rechts herrscht hier leider ein klaffendes Loch“, so der Ukrainer Kostin, der das IPCA als Mittel sieht, um das völkerrechtliche Verbot von Angriffskriegen umzusetzen.
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