Mobilitätswende in Berlin: Ideologische Grundlagen
In Berlin stellt die neue Verkehrssenatorin die Radwege-Uhr zurück. Dabei muss die Zukunft jetzt an den Planungstischen entschieden werden.
D er CDU-geführte Senat ist in Berlin noch keine 100 Tage im Amt, da scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen der Verkehrswendebewegung zu bewahrheiten. Mit ihrer Ankündigung, alle geplanten Radwegprojekte stoppen und überprüfen lassen zu wollen, sollten dadurch Parkplätze oder Fahrspuren wegfallen, löste die frischgebackene CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner ein stadtweites Beben aus: Die Bezirke sind entsetzt und fürchten verfallende Fördermittel; Fahrradaktivist:innen veranstalten fast täglich Demonstrationen.
Vergangene Woche legte Schreiner noch einmal nach, indem sie ankündigte, den letzten Teil von Berlins wegweisendem Mobilitätsgesetz „überarbeiten“ – ergo grundlegend entkernen – zu wollen. So werden Passagen, die eine Reduktion von Parkplätzen oder des Autoverkehrs vorgesehen hatten, voraussichtlich wegfallen.
Nun mag es wenig überraschen, dass eine Partei, die für rückwärtsgewandte Autopolitik steht, diese in der Regierung auch umsetzt. Doch dann sollte die CDU auch offen dazu stehen. Doch um den Zorn des Koalitionspartners SPD und der Stadtgesellschaft irgendwie im Zaum zu halten, flüchten sich Schreiner und ihr Chef Kai Wegner argumentativ in eine fantastische Parallelwelt, in der Mobilitätswende auch ohne den Rückbau von Autoinfrastruktur möglich sein soll.
Den Grundkonflikt der Verkehrspolitik, nämlich die Tatsache, dass öffentlicher Raum begrenzt, und damit die Frage, welcher Verkehrsteilnehmerin wie viel zugesprochen wird, immer eine politische ist, umschifft die CDU bei jeder Gelegenheit.
Entpolitisierter Wohlfühlsound
Stattdessen gibt es entpolitisierte Wohlfühlsounds. So beteuert die Verkehrssenatorin unentwegt, dass es ihr im Grunde nur um ein harmonisches Miteinander aller Verkehrsteilnehmer:innen geht: „Wir machen keine Politik für das Auto, wir machen keine Politik gegen das Auto, wir machen Politik mit dem Auto“, sagte sie am Donnerstag im Abgeordnetenhaus.
Mittlerweile fest zum Schreiner’schen Phrasenrepertoire gehört auch die Betonung der individuellen Entscheidungsfreiheit: „Ich möchte niemanden umerziehen“, sagte sie im taz-Interview – als hätte es unter Rot-Grün-Rot Umerziehungscamps für Autofahrer:innen gegeben.
Schreiner und ihr Chef Wegner lassen keine Gelegenheit aus, die Verkehrspolitik des Vorgängersenats als „ideologisch“ zur verurteilen. Rot-Grün-Rot wäre es nur darum gegangen, Autofahrer:innen zu piesacken und Parkplätze zu vernichten, so der Subtext vieler Aussagen der CDU-Politiker:innen. Besonders Wegner inszeniert sich als „realistisch und pragmatisch“, ganz im Gegensatz zu den autohassenden Grünen.
Leider ist genau das, was die CDU als „ideologisch“ kritisiert, Grundlage für jede Verkehrsplanung. Ob in 20, 30 Jahren die meisten Menschen mit dem Auto, dem Fahrrad oder der Bahn zur Arbeit kommen, wird nämlich nicht in den Wohnzimmern entschieden, sondern auf dem Planungstisch. Menschen nutzten die Infrastruktur, die vorhanden ist. Da spielt es keine Rolle, ob ich leidenschaftlicher Rennfahrer bin, gern Flugtaxi fahre oder am liebsten mit dem Jetpack zur Arbeit düsen würde – wenn das Einzige, was mir zur Verfügung steht, eine Bahnverbindung ist, dann fahre ich Bahn.
Verkehrspolitik hat wenig mit den aktuellen Befindlichkeiten von Einzelpersonen zu tun, sondern mit der Frage, wie wir in Zukunft als Gesellschaft mobil sein wollen. Für die CDU ist die Antwort klar: mit dem Auto. Angesichts der Klimakrise, des enormen Platzverbrauchs und der Tatsache, dass nur ein Drittel aller Berliner:innen ein Auto besitzen, hat die Partei leider keine Argumente dafür.
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