BMX-Wettkampf: Nervende Angst
Bei den European Games kämpft die BMX-Fahrerin Lara Marie Lessmann mit unschönen Erinnerungen. Kim Lea Müller läuft ihr den Rang ab.
Es gibt keine Sicherheitskontrolle, wie sonst üblich bei größeren Sportevents. Internationale Journalisten sind kaum zu sehen. Der Einheizer, ein Berliner, versucht sich in der Aussprache des Veranstaltungsortes: Kratschowitze sagt er und wird sofort von seinem polnischen Kollegen korrigiert: Krscheschowietze. Zum Warm-up der BMX-Freestylerinnen bleiben die Ränge noch fast leer, auf dem Top der Rampe sind Trainer und Athletinnen in den Vorbereitungen, die meisten haben sich unter Zelte oder Sonnenschirme geflüchtet, denn das Thermometer zeigt in der Sonne fast 45 Grad.
Schon beim Einfahren kann jeder sehen, dass die deutschen Fahrerinnen Medaillenchancen haben. Während sich eine Lettin und eine Polin mehr oder weniger über den Parcours quälen, kaum Geschwindigkeit aufnehmen und eher leichte Tricks zeigen, spielen Lara Marie Lessmann und vor allem Tim Lea Müller mit den Hindernissen, katapultieren sich in die Höhe, zeigen, was in der Szene jetzt so angesagt ist: Backflip Barspin oder Tailwhip. Rückwärtssalto mit einer Lenkerdrehung und das einmalige Kreisen des gesamten Rades unter der Hüfte.
Es gibt Dutzende und Aberdutzende Tricks, das Repertoire erweitert sich mit jeder neuen Saison. Bei den Männern ist gerade der doppelte Rückwärtssalto sehr angesagt, und der Sieger in dieser Konkurrenz, der Brite Kieran Reilly, zeigt zur Freude der dann doch etwa 500 Zuschauer einen vierfachen Tailwhip, was ganz lustig aussieht, weil sein ganzer Körper das Drehmoment erzeugt und die Füße im Rhythmus des irren Kunststücks hektisch wippen. „Yeah, great“, sagt der Einheizer, Lessmann und Müller klatschen.
Anpassung an olympische Vorgaben
Sie haben sich längst auf der Medientribüne niedergelassen, ihr Wettkampf ist vorbei. Die Eltern der dritten deutschen Starterin – sie scheiterte am Vortag in der Qualifikation – Lillyana Seidler, gerade mal 15 Jahre alt, sitzen auch dort. Ein Deutschlandfähnchen haben die Neubrandenburger mitgebracht und ihre Begeisterung für den Sport der Tochter; der Vater pfeift bei spektakulären Stunts der Deutschen schrill. Lillyana Seidler hat ihre ersten Tricks auf einem Scooter, einem Roller, eingeübt, ist dann in die BMX-Halle in Neubrandenburg gekommen, von da aufs Sportgymnasium. Ein Weg, den Lara Marie Lessmann vorgezeichnet hat. Der Sport, der einst ein Tummelplatz von Individualisten und eigenwilligen Fahrern war, von coolen Typen, die das sogenannte Core-Gefühl über schnödes Konkurrenzdenken stellten, hat sich an die olympischen Vorgaben angepasst.
Tobias Wicke, Bundestrainer
Trotzig haben manche Fahrer und Fahrerinnen „Core“ noch auf ihren Helmen stehen, als Referenz an den „echten“, authentischen Freestyle-Sport, aber wie auch Bundestrainer Tobias Wicke, mit drei WM-Titeln ein alter Kempe, sagt: „Heute fährt man miteinander gegeneinander. Es gibt schon immer noch Leute, die core bleiben wollen, die gemütlich ihre Sessions fahren wollen, aber wir machen hier Leistungssport mit dem Leistungsoptimum an Wettkämpfen.“ Deswegen ist Lessmann von Flensburg vor Jahren schon nach Berlin ans Sportgymnasium gewechselt. Im Berliner Mellow-Park trifft sich vor allem die junge Szene der Radartisten. Dort ist Lessmann groß geworden.
Lara Marie Lessmann war in den vergangenen Jahren Deutschlands führende BMX-Fahrerin. Das sieht man allein schon daran, dass sie einen Helm von Red Bull auf dem Kopf trägt. Wer von den Österreichern gesponsert wird, muss gewisse Kriterien von Coolness und Marktreife erfüllen, und Lessmann beeindruckte mit zehn Podien bei Weltcups, der Goldmedaille bei den Youth Olympics und einem zweiten Platz bei einer Weltmeisterschaft.
Aber vor zwei Jahren, gerade mal sechs Wochen vor den Olympischen Sommerspielen in Tokio, stürzte die heute 23-Jährige bei einer 360-Grad-Drehung mit dem Rad schwer, brach sich das Schlüsselbein. Mit einer Stahlschiene wurde der Bruch geflickt. Lessmann zwang sich mit einem Willensakt zu den Spielen, wurde dort gute Sechste. Die Verletzung wirkt freilich bis heute nach: „BMX ist ein mentaler Sport, und ich merke immer wieder, dass noch die Angst im Vordergrund ist.“ Es sei bisweilen schön, diese Angst zu überwinden, sagt sie, „aber ich fahre auf jeden Fall immer mit Vorsicht, das nervt langsam.“
Enttäuscht und fast wehmütig
Auch in Krzeszowice ist ihr diese Blockade anzumerken, obwohl die Stahlplatte vor einem halben Jahr entfernt wurde. „Ich muss im Kopf fit sein, das fehlt noch“, sagt sie. In der Qualifikation zum Finale am Donnerstag ist sie wieder blöd gestürzt – nach einem „weiten Transfer“. Sie ließ sich in einem Krankenhaus in Krakau durchchecken, weil ein paar Rippen schmerzten. Die Physios des deutschen Teams bearbeiteten sie in einer Doppelschicht, am Arm hinterließen sie ein kunstvolles blaues Tape im Wendeltreppen-Look. Es reicht aber nur für Platz fünf bei den European Games.
Die Enttäuschung dringt ihr aus jeder Pore, sie zwingt sich zu einem Interview, möchte nichts zu den Inhalten ihres Red-Bull-Vertrags sagen, aber immerhin dies: „Ich bin dankbar, dass ich den Leuten zeigen konnte, dass BMX mehr ist als eine Randsportart.“ Das klingt fast schon wehmütig, und wahrscheinlich denkt sie in diesem Moment daran, dass ihr Kim Lea Müller endgültig den Rang abgelaufen hat.
Die 21-jährige Müller hat zwar auf Instagram noch deutlich weniger Follower als die Konkurrentin aus dem eigenen Lager – da steht es 95.500 zu 14.300 für die Ältere –, aber Müller konnte nun ihren zweiten EM-Platz aus dem Vorjahr bestätigen. Die Tschechin Iveta Miculyčová siegte, knapp dahinter die Deutsche aus Remscheid. Darf sie bald den Helm mit dem roten Bullen tragen? „So ein Red-Bull-Deal wäre schon cool“, findet sie.
Am Verkauf ihrer Story muss sie aber noch arbeiten, denn der einzigen Presseanfrage an diesem Donnerstagnachmittag weicht sie zunächst konsequent aus. Das ist teilweise verständlich, weil sie doch zur Dopingkontrolle muss, und auch die Medaillenübergabe verschlingt Zeit, aber als ein Betreuer des deutschen Teams meint, es sei schon besser, dass BMX so selten in den Medien vorkomme und den großen Verhinderer spielt, schreitet der Bundestrainer ein, und Kim Lea Müller opfert fünf Minuten ihrer kostbaren Zeit.
Sprung zum Vollprofi?
„Bei den Mädchen wird es immer krasser, ich find’s cool“, sagt sie. Olympia sei ein Traum, ja klar, und der Papa sei es gewesen, der sie zum Sport gebracht habe. Zu einem BMX-Event nach Köln habe er sie geschleppt und dann ein Rad gekauft, bei dem die Naben so schön schnurren und der Sattel verdammt tief sitzt. Von Remscheid, wo sie Abitur auf einem „normalen Gymnasium“ machte, ging sie nach Oldenburg für ein freiwilliges soziales Jahr. Zuletzt war sie mit ihrem Freund wochenlang an der australischen Goldküste unterwegs. Da gibt es genügend BMX-Parks. Und ein bisschen Bildung geht auch von Down Under aus: An einer Online-Universität studiert sie Sport- und angewandte Trainingswissenschaften.
„Irgendwann muss ich wohl arbeiten“, fürchtet sie, aber wer weiß, vielleicht gelingt ihr auch der Sprung zum Vollprofi. Wie es der Trainer, Tobias Wicke, bis vor zehn Jahren, vorgelebt hat. Der Berliner, auch er eine Mellow-Park-Pflanze, hat sich 13 Jahre seiner erfolgreichen Karriere als Selfmademan durchgekämpft, mit Shows, Preisgeldern und Sponsorenverträgen. Heute sei durch die Sportförderung alles viel einfacher. „Dieses System ist wirklich hervorragend“, sagt Wicke.
Weil die Sportart im Jahr 2017 vom IOC in den olympischen Kanon aufgenommen wurde, ist aus dem viel beschworenen Core-Feeling klare Kante geworden. Zur neuen Hackordnung im deutschen Team sagt der 41-Jährige: „Irgendwann wird man eben sozusagen ausgetauscht. Lara Lessmann fährt immer noch auf superhohem Niveau, aber nach einer gewissen Zeit kommt eben die jüngere Generation nach.“ Er spricht von „Positionswechsel“ und „Schlagabtausch“. Es ist die schnöde olympische Zeit dieses spektakulären Sports, auch die Zeit von Ranglisten, die in ihrer Aussagekraft unerbittlich sind.
Im Ranking des Radsportweltverbandes UCI steht Kim Lea Müller nun schon auf Position drei, hinter der US-Amerikanerin Hannah Roberts und der Schweizerin Nikita Ducarroz. Ihre Zeit kommt. Vielleicht schon in Paris 2024.
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