Gründungswerk der Holocaustgeschichte: Ein Buch schreibt Geschichte
Anfangs wollte es niemand, jetzt erscheint eine neue Ausgabe. Raul Hilbergs „Vernichtung der europäischen Juden“ ist mehr als ein Standardwerk.
Am 26. November 1982 erschien in der noch jungen taz auf Seite 9 unter der Seitenrubrik „Reportage“ ein Text, der ganz gewiss keine Reportage darstellt. Der Text beginnt mit den heute schwer verständlichen Worten: „Es ist über ein Ereignis zu berichten, das eigentlich noch wichtiger ist als die Fernsehserie über Holocaust.“
Der Satz bezieht sich auf eine US-Serie, die in der Bundesrepublik nur in den dritten Programmen zu sehen war, aber dennoch für Furore sorgte, weil dort der Judenmord der Nazis anhand einer verfolgten Familie geschildert wurde. Auf dieser Seite 9 aber geht es um ein neues Buch, kürzlich erschienen bei einem linken Berliner Kleinverlag. Dann folgt der Titel: „Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden“.
Die Rezension von Urs Müller-Plantenberg blieb über Jahre die einzige im deutschen Blätterwald, erinnert sich Christian Seeger, der damals Hilbergs Text übersetzte. Weder Frankfurter Allgemeine noch Süddeutsche oder Die Zeit verloren auch nur ein Wort über das Buch. Es sei aber nicht so gewesen, dass der Verlag Olle & Wolter an der Veröffentlichung der 840 Seiten im Großformat zugrunde gegangen sei, das Ende des Verlags habe ganz andere Gründe gehabt.
Seeger spricht ganz am Ende einer Veranstaltung in der Berliner Topographie des Terrors über das Buch, das ein Standardwerk zu nennen eine gewaltige Untertreibung wäre. Seeger hat ein Nachwort geschrieben zur nun erfolgten neuen Ausgabe von Hilbergs Klassiker, der an diesem Abend vorgestellt wird.
Raul Hilberg: „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Mit einem Vorwort von René Schlott. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 1.472 Seiten, 98 Euro. Die nicht aktualisierte Taschenbuchausgabe ist weiterhin zum Preis von 25,99 Euro erhältlich.
Die ganze deutsche Gesellschaft wirkte dezentral mit
Olle & Wolter gibt es längst nicht mehr. Raul Hilberg ist im August 2007 in den USA verstorben. Aber sein Buch, an dem er sein halbes Leben lang gearbeitet hat, diese „Gesamtgeschichte des Holocaust“, wie es im Untertitel der ersten deutschen Ausgabe heißt, ist geblieben, ist größer geworden, ist verstanden worden als das, was es darstellt: ein Buch, das weitgehend emotionslos auf Basis von Täter-Quellen etwas scheinbar Unbeschreibliches beschreibt, analysiert und einordnet, ohne moralische Adjektive, ruhig, bestimmt und von schneidender Präzision.
Das „Gründungswerk der Holocaustgeschichte“, so die lernfähige Frankfurter Allgemeine im Jahr 2007, legte die Basis für Hunderte weitere Forschungen zum Thema.
„Bleibe bei den Debatten, bei den Quellen“, das sei es, was dieses Buch mitteile, sagt Hilberg-Biograf René Schlott, der für die Neufassung das biografische Vorwort geschrieben hat. Der Massenmord an den Juden sei weder zentral geplant noch mittels eines eigenen Budgets finanziert worden.
Die „Vernichtungsmaschine“ sei das Werk der ganzen deutschen Gesellschaft gewesen, die effizient und dezentral mitgewirkt habe, sagt Schlott. Das Geschehen habe logisch aufeinander aufgebaut, sei aber nicht zwangsläufig gewesen. Hilberg sei es um die Struktur des Vernichtungsprozesses gegangen, führt Schlott aus, also um eine Dreiteilung – Definition, Konzentration, Vernichtung.
Definition, das heißt: Wer ist ein Jude und wer ist es nicht? Hilberg macht dazu schon 1961 darauf aufmerksam, dass die von den Nazis gefundene Definition zwar „rassischen“ Kriterien zu folgen vorgibt, aber allein nach der Abstammung von Eltern und Großeltern fragt – weil sich keine anderen Kriterien fanden.
Konzentration, das sind die Vertreibungen und Ghettoisierungen, die Zwangsarbeit und Ausbeutung. Und Vernichtung – das erklärt sich von selbst. Die Deportationen in den Osten, die Tötung in Vernichtungs- und Konzentrationslagern, in Gräben durch Genickschüsse, durch medizinische Experimente, durch Verhungern.
Deutsche Schriftstücke als Quellen
Die Quellen, das waren zuerst und vor allem deutsche Schriftstücke, also Beweise, die die Täter selbst hinterlassen hatten. Zeichen dafür, dass Leugnen zwecklos ist, dass Lügen Lügen bleiben. 1945 war es, als der junge Raul Hilberg als US-Soldat nach Europa kam. Der Krieg war schon fast beendet. Hilberg, der aus einer von den Nazis vertriebenen jüdischen Familie aus Wien stammte, sah das KZ Dachau kurz nach der Befreiung mit eigenen Augen.
Er entdeckte in München die in Kisten verpackte Privatbibliothek Adolf Hitlers, befragte im Auftrag der Army deutsche Soldaten. Er war immer nahe bei den Quellen, auch nach Aufnahme eines Politikstudiums in New York. Geschichte kam damals für ihn nicht infrage, denn der Holocaust – die Bezeichnung für den Massenmord an den Juden gab es noch nicht – war ja keine Geschichte, sondern eben erst geschehen.
Damals, Ende der 1950er Jahre, habe all das aber kaum jemand wissen wollen, nicht in den Vereinigten Staaten, nicht in Deutschland, ja nicht einmal unter vielen der überlebenden Opfer, erzählt Schlott. Hilberg fand für seine voluminöse Promotion über den Judenmord zunächst keinen Verlag und landete schließlich 1961 bei einer kaum bekannten Neugründung in Chicago.
Er musste lange nach einer Stelle an einer Universität suchen, die er schließlich in Burlington, Vermont, nahe der kanadischen Grenze fand, sozusagen am Ende der Welt, wo er zuständig für amerikanische Außenpolitik wurde. Für Hilbergs eigentliches Thema interessierten sich nur wenige, auch wenn die New York Times das Werk damals durchaus zur Kenntnis nahm.
Unrühmliche Veröffentlichungsgeschichte
Die Veröffentlichung von Hilbergs „Vernichtung der europäischen Juden“ ist längst selbst Geschichte geworden. Es ist keine gute, schon gar nicht in Deutschland. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei das so renommierte Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München, gegründet extra zur Untersuchung der jüngsten deutschen Geschichte.
Schon 1964 empfahl ein namentlich unbekannter Gutachter des IfZ dem Droemer Knaur Verlag auf Anfrage, auf eine Übersetzung und deutsche Veröffentlichung zu verzichten. Man verwies dabei unter anderem auf anstehende Veröffentlichungen durch das eigene Haus, meinte aber auch, die Analyse Hilbergs sei nicht umfassend genug.
1967 zeigte Rowohlt kein Interesse. 1980 fragte der Münchner Beck-Verlag beim IfZ nach, was man von einer Veröffentlichung hielte. Die Antwort fiel erneut negativ aus, das Werk sei nämlich inzwischen „veraltet“. Und so hätte es ewig weitergehen können – hätte sich nicht der Kleinverlag Olle & Wolter 1982 erbarmt.
Deutsche Borniertheit
War es Antisemitismus, den das Institut für Zeitgeschichte damals bei seiner Ablehnung geleitet hat? René Schlott bleibt da vorsichtig. Möglicherweise spielt deutsche Borniertheit die entscheidende Rolle. Damals, das ist inzwischen hinlänglich durch Veröffentlichungen bekannt, glaubten die selbst nicht immer ganz unbelasteten Herren in München, gerade die Deutschen seien ganz besonders befähigt, deutschen Krieg und Massenmord zu analysieren, keinesfalls aber die verfolgten Juden, die mit zu viel Emotionalität an das Thema herangehen würden.
„Verteidigung des eigenen wissenschaftlichen Stammesgebiets und der Deutungshoheit gegen bessere, als Konkurrenten wahrgenommene Kollegen“ nannte der Historiker Götz Aly ein solches Verhalten schon vor Jahren.
Aber auch diese Schlachten scheinen heute Geschichte zu sein. Was bleibt, ist ein Buch mit zusammen 1.472 Seiten. Nicht nur Vor- und Nachwort von René Schlott beziehungsweise Christian Seeger sind neu, auch der Text entspricht nun der letzten amerikanischen Version Hilbergs, der die Angewohnheit besaß, sein Lebenswerk immer wieder zu aktualisieren, wenn neue Forschungsergebnisse dies nahelegten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“