Roman „Die Postkarte“ von Anne Berest: Die verlorene Erinnerung
Anne Berest erforscht das Schicksal ihrer im Zweiten Weltkrieg deportierten Vorfahren. Ihr Roman ist erschütternde Erinnerungsliteratur.
Erinnerungsliteratur ist nicht nur en vogue, sie ist mittlerweile unüberschaubar und häufig von geringem Interesse. Ganz anders der Roman „Die Postkarte“ von Anne Berest, der nicht nur eine Familienchronik ist, sondern eine Spurensuche nach den verschwundenen Verwandten, die fast alle von den Nazis ermordet wurden.
Die Einzige, die davonkam, ist Myriam, die Großmutter, die jedoch, um die Geister der Toten nicht zu wecken, nie über die Zeit des Schreckens spricht. Berest begibt sich auf die Reise in eine weit entfernte Vergangenheit, auf der sie Erschütterndes erfährt und dies auf eine Weise beschreibt, die durch Schlichtheit und Eleganz besticht.
Erste Nachforschungen hat bereits Berests Mutter Lélia angestellt, die ihrem Kind schon früh erzählt, woher es kommt und was passiert ist. Der Name Lélia bedeutet im Hebräischen die „Leuchtende“, das Licht in der Dunkelheit, die ihre Mutter Myriam erlebt hat und die die Tochter durchdringen soll. Lélia hatte schon als Kind gefragt, warum die Gäste auf einem Fest alle eine Nummer auf dem Arm hatten. Das seien Telefonnummern, hatte ihre Mutter genervt geantwortet, denn ältere Leute wären nun mal vergesslich.
Irgendwann glaubt Lélia das nicht mehr. Sie will mehr wissen, denn sie hat keine Großeltern und keinen Vater. Der hatte sich umgebracht, als Lélia drei Jahre alt war. Von ihm hat sie nur den Namen: Picabia. Vicente Picabia war der spät Geborene der Musikerin und Schriftstellerin Gabriële Buffet und des Schriftstellers und Künstlers Francis Picabia, als die Ehe schon in die Brüche gegangen war, ein Verlorener, für den seine Eltern keine Zeit hatten. Vicente muss später sogar seinen Platz für seinen berühmten Vater im Familiengrab räumen.
Anne Berest: „Die Postkarte“. Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner. Berlin Verlag, Berlin 2023. 544 Seiten, 28 Euro
Lélias Großeltern mütterlicherseits waren russische Juden, die zuerst nach Riga flüchten müssen, von dort aus nach Palästina, wo sie es nicht lange aushalten, um sich schließlich in Paris eine Existenz aufzubauen.
Im Land der Aufklärung und der Menschenrechte glaubt sich Ephraim, der Großvater, sicher, er ignoriert die bedrohlichen Anzeichen, er fühlt sich zu alt, um erneut zu flüchten. Und waren in Amerika nicht schon genug Juden? Hätte er da überhaupt eine Chance? Er bleibt und verschließt die Augen davor, dass sich die Schlinge um ihn und seine Familie immer enger schließt.
Flieh doch endlich!
Es ist nur einer spontanen Eingebung zu verdanken, dass er seiner ältesten Tochter Myriam befiehlt, sich zu verstecken, als seine beiden anderen Kinder abgeholt werden. Die Zwangsläufigkeit, mit der das alles geschieht, ist schwer zu ertragen, und man ertappt sich dabei, wie man denkt, flieh doch endlich! Obwohl ihn Frankreich als Staatsbürger nicht will, ist Ephraims Glaube an das Land unerschütterlich. An ihm erfüllt sich aber nicht nur das unerbittliche Schicksal eines Staatenlosen, sondern das eines aller Rechte beraubten Juden.
Im Dorf, das Lélias Großeltern verließen im Glauben, wieder zurückzukommen, sucht Anne Berest nach Zeitzeugen, und entdeckt dabei das Klavier ihrer Familie im Haus eines der Nachbarn, die damals schnell dabei waren, sich an den von Laken bedeckten wertvollen Möbeln zu bereichern.
Was macht man dann, Jahrzehnte später? Es ist schon schwierig, von den Behörden einen Totenschein zu bekommen, weil die französische Verwaltung nicht von „im Lager Umgekommenen“ spricht, sondern von „nicht Zurückgekehrten“, als würden die deportierten Juden noch leben und um damit zu verdeutlichen, dass man nichts damit zu tun hat und deshalb auch keine Ansprüche stellen kann.
Man verweigert den Überlebenden die Anerkennung des rassistischen Motivs der Verfolgung und behauptet stattdessen, es hätte sich um „politische Gründe“ gehandelt. Erst 1996 (!) ringt sich die Behörde zu dem Vermerk „gestorben in der Deportation“ durch, so dass die Überlebenden eine Korrektur der betreffenden Sterbeurkunde erwirken können.
Wichtige Figuren in der Résistance
Aber Myriam ist entkommen. Sie trägt keinen Judenstern und geht weiter an die Uni in Paris, wo sie zufällig Vicente Picabia trifft und ihn 1941 heiratet, ohne zu ahnen, wie verloren er wirklich ist. Hätte die ältere Schwester Vicentes – Jeanine – den Frischvermählten nicht gesagt, dass es höchste Zeit ist zu flüchten, wäre diese Geschichte nie aufgeschrieben worden.
Jeanine ist eine wichtige Figur im Widerstand und wird von De Gaulle am 12. Mai 1943 mit der Médaille de la Résistance ausgezeichnet, vor allem für die Nachricht von in Brest vor Anker liegenden deutschen Kriegsschiffen, die aufgrund dieser Information von der englischen Luftwaffe schwer beschädigt werden konnten. Auch Marcel Duchamp ist im Widerstand. Und Samuel Beckett steigt rasch zum Feldwebel im Netzwerk Gloria SMH auf, während René Char eine wichtige Rolle dabei spielt, den zersplitterten Widerstand zu verbinden und die zögernden Menschen mitzureißen.
In den Notizen von Myriam, die Lélia nach ihrem Tod findet, steht, sie habe „die Demarkationslinie zusammen mit Hans Arp in einem Kofferraum überquert“, der als „entarteter Künstler“ auf der schwarzen Liste der Nazis steht. Auch Myriam schließt sich dem Widerstand an, macht Botengänge, überbringt verschlüsselte Nachrichten und hört BBC, um Berichte über den neuen Kriegsverlauf zu verfassen.
Sie verbringt lange Zeit auf dem Hochplateau von Claparèdes in einer verlassenen Hütte zusammen mit dem von Unruhe getriebenen Vicente, der süchtig ist nach Amphetaminen, mit denen sich die Angst unterdrücken lässt, und ihrem späteren Mann Yves Bouveris, der wie viele junge Männer sich der Anordnung der Behörden widersetzt und dem Arbeitsdienst in Deutschland entzogen hatte.
Das Hotel der lebenden Toten
Nach Kriegsende geht Myriam täglich zum Hotel Lutetia, einem ehemaligen Luxushotel mit 350 Zimmern, das für die Rückkehr der deportierten Franzosen beschlagnahmt wird. Es herrscht ein riesiges Chaos auf dem Boulevard Raspail, denn die bis auf die Knochen abgemagerten Lagerinsassen erschrecken die Pariser, die dennoch jeden Neuankömmling bedrängen, um etwas über ihre vermissten Verwandten in Erfahrung zu bringen.
Auch Myriam sucht nach ihren Eltern und Geschwistern. Immer noch macht sie sich Hoffnungen, noch immer ist die Wahrheit über die Lager nicht bekannt. Eine Unmenge von Fotos der Vermissten hängt im Foyer des Hotels, aber Myriam hat keine Fotos. Sie kann nur ihre Namen auf einem Zettel schreiben und an die Wand heften. Kurze Zeit später wird das „Hotel der lebenden Toten“ geschlossen. Myriam hat niemanden gefunden, der ihr etwas über ihre Familie hätte erzählen können.
Das alles findet Berest im Zuge ihrer Recherchen eines merkwürdigen Vorfalls heraus. Eine Karte mit den vier Vornamen der Familie Rabinovitch, die in Auschwitz getötet wurden, taucht 2003 im Briefkasten von Lélia auf, die sie als ungelöstes Rätsel in einer Schublade verwahrt. Mit diesem genialen Kunstgriff, nämlich herauszufinden, wer diese Postkarte geschrieben haben könnte, geht Anne Berest der vagen Spur ihrer biografischen Herkunft nach. Auch wenn die Anhaltspunkte dürftig sind, die Autorin fügt die Puzzleteile zusammen, die nach und nach ein überraschendes Gesamtbild einer Geschichte ergeben, die nie zu Ende erzählt sein wird.
Anne Berest kennt man hierzulande durch die mit leichter Hand geschriebene Abhandlung „How To Be Parisian“. Diesmal ist ihr ein bewegendes Werk über ihre Familie gelungen, ein großes Buch der Erinnerung, das in der Suche nach und im Zusammentragen von Details nicht zufällig ein wenig an Patrick Modiano erinnert, mit dessen autobiografischem Buch „Ein Stammbaum“ sie sich beschäftigt und das sie für das Theater bearbeitet hat.
In ihrem Roman spiegelt sich die ganze Tragödie wider, deren Protagonisten Anne Berest ein Gesicht verleiht, und indem sie sie in ihrem Buch wieder lebendig werden lässt, erfüllt sie den letzten Wunsch ihrer Großmutter Myriam.
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