Debütroman „Gewässer im Ziplock“: Zu Jom Kippur zurück in Deutschland

Dana Vowinckels Roman „Gewässer im Ziplock“ erzählt von einer zerbrochenen Familie. Zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem geht diese auf Selbstsuche.

Dana Vowinckel steht in Berlin am Olof-Palme-Platz vor den zerbrochenen Steinen des Ammonitenbrunnen

Zerbrochene Steine: die Schriftstellerin Dana Vowinckel in Berlin am Olof-Palme-Platz Foto: Reto Klar/imago

Fragmentiert. So beginnen die ersten Passagen des Buchs, nicht in Kapitel unterteilt, lediglich durch Asteriske voneinander getrennt. Die Personen treten zunächst ohne Namen auf, man begegnet ihnen in Situationen, die alltäglich scheinen, doch nicht unbedingt vertraut. Gleich auf der ersten Seite erfährt man, dass die Szene in der jüdischen Gemeinde Berlins spielt. Vom Kiddusch ist die Rede, von Gabbaim, den Laienvorstehern einer Synagoge, und von koscherem Catering.

Die Schriftstellerin Dana Vowinckel erzählt in ihrem Debütroman „Gewässer im Ziplock“ von einer Familie, die drei Staaten miteinander verbindet: Israel, die USA und Deutschland. Sie besteht aus Avi, der von Israel nach Deutschland gezogen ist, seiner ehemaligen Partnerin Marsha, einer US-Amerikanerin, und ihrer gemeinsamen jugendlichen Tochter Margarita, einer Deutschen. Sie alle sind Juden. Eines der wenigen Dinge, über das in dieser Nicht-mehr-Familie Einigkeit herrscht. Wobei selbst diese scheinbare Gewissheit im Verlauf des Romans in Zweifel gezogen werden wird.

Zerrissen ist die Familie schon lange. Marsha und Avi hatten sich in Israel kennengelernt, waren dann nach Deutschland gezogen, wo Margarita zur Welt kam. Doch weil Marsha es in dem Land nicht aushielt, ging sie zurück in die USA. Avi, der eine Stelle als Kantor der jüdischen Gemeinde antrat, lebt seitdem alleinerziehend mit Margarita in Berlin-Prenzlauer Berg.

Dana Vowinckel wechselt in der Erzählung zwischen Avis und Margaritas Perspektive, er in Berlin, sie verbringt am Anfang des Buchs die Sommerferien bei den Großeltern in Chicago. Margarita ekelt sich vor dem Essen, das ihr die Eltern ihrer Mutter vorsetzen, vor den Geräuschen, die sie am Tisch erzeugen.

Dana Vowinckel: „Gewässer im Ziplock“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 362 Seiten, 23 Euro

Bei aller Abscheu vor Zähnen, die beim Joghurtessen auf Besteck schlagen, und der vielen Fluchten ins Bad, wohin Margarita sich zurückzieht, wenn es ihr zu viel wird, könnte man meinen, dass sie keine Zuneigung zu diesem Teil der Familie empfindet. Mehr und mehr wird aber deutlich, dass sie eben auch eine Teenagerin mit den zugehörigen Nöten ist, eine höchst sensible.

Spirale der Gereiztheiten

Als Margarita von Avi erfährt, dass sie vor der Rückkehr nach Berlin ihre Mutter in Jerusalem besuchen soll, wo diese gerade als Stipendiatin an der Universität forscht, ist sie wenig begeistert. Zur Mutter hatte sie jahrelang keinen Kontakt, die Eltern trennten sich im Schlechten. Margarita muss sich gleichwohl dem Willen der Erwachsenen beugen. Dass Marsha sich im Datum der Anreise irrt und Margarita ihren ersten Tag in Jerusalem allein verbringt, hilft bei der schwierigen Begegnung nicht unbedingt.

Mutter und Tochter begeben sich auf eine Reise durch Israel, während der sie so gereizt aufeinander reagieren, dass irgendwann auch Avi nach Jerusalem fliegt, weil er die Sorge um seine Tochter nicht mehr erträgt. Vowinckel lässt die gegenseitigen Gereiztheiten bis an die Schmerzgrenze eskalieren, zugleich steckt selbst in den geschilderten Gemeinheiten so viel Zärtlichkeit, dass man mit jeder der Figuren mitleidet.

Vor allem aber zeichnet Vowinckel ihre Protagonisten, wie sie sich und ihr Gegenüber bis in die kleinsten Regungen beobachten und befragen, mit einer an die Imitation von Leben gemahnenden Wachheit. Für das bewegte Miteinander findet Vowinckel unterschiedliche Rhythmen. Wenn es so richtig hakt, folgt mitunter ein Stakkato-Satz auf den nächsten, in anderen Passagen verkettet sie wie atemlos wirkende Nebensätze.

Leichte Verschiebungen der Sprache

So wenig selbstverständlich sich die Protagonisten des Romans sind, so wenig selbstverständlich sind sie sich als Juden. Insbesondere das Leben als Jude in Deutschland und die Frage, ob und wie dieses nach dem Holocaust möglich ist, nimmt Vowinckel von den verschiedenen Seiten in den Blick, neuere Ereignisse wie den antisemitischen Anschlag von Halle erwähnt sie kurz.

Nicht zuletzt der Glaube selbst steht bei Avi keineswegs so unerschütterlich fest, wie es lange scheint. Wenn es sein muss, fährt Avi in Israel am Schabbat, obwohl es verboten ist, mit dem Auto. Ungeachtet dessen, dass er darauf besteht, dass Margarita zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, mit ihm nach Berlin zurückkehrt.

Diese Schwankungen fängt Vowinckel in der Sprache mit leichten Verschiebungen ein. Wo anfangs mit „Haschem“, wörtlich „Der Name“, dem dritten Gebot Rechnung getragen wird, nach dem man den Namen des Herrn nicht missbrauchen soll, schreibt sie gegen Ende des Buchs vereinzelt direkt den Namen des Herrn, „Gott“. Einige der im Text verwendeten hebräischen Begriffe sind zudem am Ende in einem Glossar erläutert. Haschem ist nicht darunter.

Ein im konservativen und orthodoxen Judentum wichtiges Konzept stellt Vowinckel ebenfalls vor, die Matrilinearität. Danach ist nur Jude, wer von einer jüdischen Mutter abstammt. In Israel gilt dies über vier Generationen hinweg. Eine Folge des Treffens mit ihrer Mutter ist, dass Margarita in dieser Frage Unsicherheit überkommt, was der Roman nicht auflöst.

Krasse Unterschiede im Gedenken

Nichtjüdische deutsche Leser bekommen in „Gewässer im Ziplock“ eine Ahnung davon, wie heikel die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland sein kann. So bemerkt Margarita bei einem Besuch in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem einen krassen Unterschied: „Während in den deutschen und polnischen Gedenkstätten ständig das Entsetzen darüber ausgedrückt wurde, dass sogar die assimilierten Juden ermordet worden waren, ging es hier, in Yad Vashem, lediglich darum, dass es Menschen gewesen waren.“

Woraus sie folgert: „Die Deutschen dachten, die Juden, die an Jom Kippur Leberkäse mit Sahnesoße gegessen hatten, hätten es weniger verdient zu sterben als die Frommen, wahrscheinlich dachten die Deutschen das noch immer.“

Dem stellt sie eine Haltung entgegen, die unterschiedslos an das Leid jedes einzelnen Opfers gemahnt und es nicht hinter bloßen Zahlen zum Verschwinden bringt, mit einem Zitat des Schriftstellers Abel Herzberg: „Nicht sechs Millionen Juden wurden ermordet. Ein Jude wurde ermordet, und das ist sechs Millionen Mal geschehen.“

Daran zu erinnern, ist nicht erst seit dem 7. Oktober wieder dringend, Dana Vowinckels Buch war schon zuvor bei seinem Erscheinen aktuell und nötig. Dieses so unnachgiebig kluge wie souveräne Debüt möge viele Leser finden.

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