Kirche in Ostdeutschland: Wo der Heilige Geist am Rad dreht
Um Fürstenwalde haben Protestanten viel zu tun. Es gibt kaum Gläubige, dafür jede Menge Friedhöfe. Und dann gewinnt die AfD fast die Landratswahl.
E s ist am Vormittag, da erzählt Rahel Rietzl im Fürstenwalder Dom von ihrer Idee. Am liebsten würde sie mit einem Fahrrad samt Anhänger und einem Pop-up-Altar über die Dörfer fahren. In Gedanken klappt sie den Altar schon auf. Dann könnte sie auf jedem Platz, an jeder Straßenbiege mit den Leuten reden und zum Gottesdienst einladen. Etwa wenn wieder Taufe ist an der Spree. Oder am Heinersdorfer Dorfanger beim gemeinsamen Abendbrot. Oder in Steinhöfel, wenn im Ulmenhof wieder der AfD-Stammtisch zusammentritt samt „Christen in der AfD“.
Schöne Idee, so ein Anhänger hinterm Fahrrad. Und das Beste daran ist, es gibt ihn schon, den „Kistenflitzer“, eine unkonventionelle Einladung zum Reden, Erzählen oder auch Predigen, damit Heiliger Geist regnen kann.
Denn den kann es gar nicht genug geben in einem Landkreis, wo im Mai bei der Landratswahl, erstmals in Deutschland, fast der AfD-Kandidat gesiegt hätte. Kurzum – Christen müssen gerüstet sein für die Aufgaben dieser Welt. Rahel Rietzl ist gerüstet, mit dem „Kistenflitzer“ oder klassisch mit Auto. Frühzeitig hat sie demonstriert, hat bei den Protesten gegen die AfD das Wort ergriffen. Doch sind es auch ihre Kirchengemeinden ringsum?
„Menschenfeindlichkeit schadet der Seele“
An der Steinhöfeler Dorfkirche ließen die Protestanten 2021 zwei Transparente anbringen. „Menschenfeindlichkeit schadet der Seele“ stand auf dem einen, „Liebe tut der Seele gut“ rief es von dem anderen direkt hinüber in den Ulmenhof. Rahel Rietzl fährt diese Botschaften an den Seitenfenstern ihres Autos weiter übers Land, andere aus der Gemeinde tun es auch. Es geht um eine klare Haltung, sagt Rietzl, aber ebenso um ein Gesprächsangebot, auch an die Wählerschaft der AfD. Politisch lässt sich jedenfalls etwas organisieren. Die Themen sind für die Evangelischen in Ostbrandenburg keine anderen als für alle hier: Wer gestaltet in den Dörfern und Städten um Fürstenwalde? Wer entscheidet? Was hält zusammen?
Eine andere Sache ist, ob die kirchlichen Strukturen noch passen. Rietzl schreibt die Namen der Dörfer und Gemeinden auf, zieht Kreise, schreibt Zahlen hinein und erklärt: Um Fürstenwalde mit seinem wiederaufgebauten Dom gibt es zwanzig Dörfer, die zu fünf verschiedenen Kirchengemeinden gehören, mit 70 bis knapp 300 Evangelischen. Trotzdem gibt es jede Menge Kirchengebäude, Pfarrhäuser, Grundstücke. Dazu kommen zwei größere Gemeinden in der 32.000-Einwohner-Stadt Fürstenwalde. Die eine hat 1.200, die andere 2.300 Mitglieder. Macht zusammen etwa 4.400 Mitglieder, etwa 10 Prozent der Einwohnerschaft.
Soll man das weiter pflegen? Winzige Gemeinde? Alte Gemäuer? Leere Kirchen? Keine Gläubigen, dafür jede Menge Friedhöfe? Ist das die Gestalt, mit der Protestantismus im 21. Jahrhundert wahrgenommen werden will? Nein, sagt die Landeskirche, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg – schlesische Oberlausitz, die die Länder Brandenburg, Berlin und den östlichsten Zipfel Sachsens umfasst. Die Landessynode, das oberste Parlament, stimmte für eine Strukturreform. Es gibt Regionen, etwa die Prignitz und die Oberlausitz, in denen es seitdem gewaltig knirscht, von Entmündigung ist die Rede. In Fürstenwalde blieb es ruhig. Warum?
Im Gesicht von Rahel Rietzl ist die Antwort zu finden. „Wir haben 2023! Wir müssen etwas ändern.“ Die Zeiten der bundesdeutschen Volkskirche sind genauso vorbei wie das zähe Bekennertum aus DDR-Tagen. Rietzl, Jahrgang 1984, gehört zu einer neuen Generation, sie hat aber kein klassisches Studium der Theologie absolviert, sondern ist ordinierte Gemeindepädagogin. Neben der Theologie sind Sozialwissenschaften, Psychologie und ein stärkerer Gesellschaftsbezug weitere Schwerpunkte des Studiums. Mit diesem Abschluss ist man offensichtlich auf gesellschaftliche Herausforderungen besser vorbereitet als ein „Volltheologe“. Ein Kirchenältester und Mitglied der Landessynode, im Haupterwerb Landwirt, lobte Rietzls analytische und strategische Fähigkeiten, eine, wie er sagte, in der Pastorenschaft eher unterentwickelte Begabung.
Rahel Rietzl, Pfarrerin, zeigt klare Kante gegen rechts und sucht das Gespräch wo immer möglich
Der Beschluss, als eine Gemeinde zusammenzugehen, kam im Oktober 2022 „überraschend deutlich“, resümiert Rietzl. Und er war demokratisch wie der gesamte Prozess. Die teilweise winzigen Gemeinden werden sich zum 1. Januar 2024 zu einer Regionalgemeinde vereinen. Für Rietzl ist das die Leistung des Pfarrteams und der aktiven Ehrenamtlichen. „Ich glaube wirklich, dass das eine Chance ist“, bekräftigt sie. „Es gibt inhaltliche Themen, die Frage, wie können wir etwas zusammen bewegen.“ Und bewegen muss man eine ganze Menge. „Wir haben mit der AfD zu tun und damit, wie wir als Kirche in Zukunft leben.“
Der Weg von Fürstenwalde in die Dörfer ringsum führt über Eichenalleen. In Neuendorf im Sande, einem 400-Seelen-Dörfchen, stimmen die Proportionen der Kirche nicht. Der Turm ist zu kurz. Kevin Jessa wirft einen Blick auf das Feldsteinmauerwerk. „Ganz klar 13. Jahrhundert“, sagt er, der Turm hingegen kam viel später dazu und wurde 1938 wieder verkürzt. „Dem Vaterland zuliebe“ ließ die Gemeinde die Turmspitze abtragen. Der Turm lag in der Einflugschneise für den Flugplatz Fürstenwalde und störte die Piloten von Görings Luftwaffe.
Jessa, 33 Jahre alt, kurzes Haar, kariertes Hemd, Goldrandbrille, wirkt wie ein klassischer Vertreter seiner Zunft, ist aber, anders als seine Kollegin Rietzl, nicht in einem Pfarrhaus aufgewachsen. Im Gegenteil, das Elternhaus war deutlich weniger kirchlich geprägt, erzählt er. Und trotzdem verkündet Kevin Jessa, ebenfalls Gemeindepädagoge, seit drei Jahren das Evangelium. Gerade kommt er von einem eher typischen Frauenkreis, wo die Damen, alle Rentnerinnen, ihren jungen Pfarrer in den höchsten Tönen lobten. Zu erwarten war das nicht unbedingt.
Jessa erzählt ohne Umschweife, dass er ein Anhänger feministischer Theologie ist und im Gottesdienst stets inklusiv predigt. Da ist Gott nie nur der Vater, sondern immer auch die Mutter, die Lebendige, die Weisheit, die Geistkraft. Jessa spricht in anderen biblischen Bildern, wo es passt und möglich ist. Überhaupt hatte Jessa mit mehr Widerstand gerechnet, als er mit seinem Ehemann in die Fürstenwalder Pfarrwohnung einzog. „Meine Klischees wurden widerlegt“, sagt er im Blick auf die Dörfer.
Jessa blickt zum Feldsteingiebel hinauf, blinzelt in die Sonne. Es ist mit dem Koloss Protestantismus wie mit dem Kirchlein hier – Kirche ist immer in Bewegung, ist mal größer, mal kleiner, macht Fehler, ist uralt, trotzdem erstaunlich stabil und lebt von den Leuten, die etwas von ihr erwarten. Und sie ist für Überraschungen gut.
Jessa steht vor einer stilisierten Turmspitze, ein lackiertes Stahlgerüst, fest verankert mit Holzdielen und ein paar Stühlen drauf. Diese Spitze wurde Anfang Mai eingeweiht und soll als Pavillon eine Einladung sein – ein öffentlicher Raum im Dorf, neben Kirche und Friedhof –, ein Forum, um die Dinge zu verhandeln, die alle angehen. Oder auch, um in Ruhe ein Bier zu trinken.
Bleibt die Frage, wo man sich trifft, wenn’s regnet. Zwei Männer sind angeradelt. Der eine ruft fröhlich „Buon Giorno!“, der andere zündet sich eine Zigarette an. Der eine, Arnold Bischinger, ist Leiter des Kultur- und Sportamtes im Landkreis. Der andere, Peter Mansfeld, ist Schmied und hat die filigrane Turmspitze geschweißt. Mit Kirche hatten die beiden Neuendorfer nicht viel am Hut. Inzwischen besprechen sie mit Pfarrer Jessa Pläne, die dessen Vorgänger noch als Schnapsidee abgetan hätte.
Nein, das Gebäude hinter der stählernen Spitze ist keine Garage, es ist die alte Leichenhalle, ein solider, heute weitgehend nutzloser DDR-Bau. Für ganze zwei Beerdigungen soll sie seit 1990 genutzt worden sein, sagt Bischinger. Trauerfeiern finden seit Jahren entweder in der Kirche statt oder am Grabe.
Warum also nicht die Trauerhalle zu einem lebendigen Ort machen, mit breitem Tor zum Friedhof, aber auch zur Turmspitze? Für Gespräche, Konzerte, Lesungen? Der Verein Kulturscheune Neuendorf, Bischinger ist einer der Initiatoren, hat von der politischen Gemeinde, der die Halle gehört, schon einen Pachtvertrag erhalten. Die kleine Kirchengemeinde unterstützt das Projekt, das so ideal für ein neues Miteinander im Dorf steht. Der Rest ist Engagement.
Der Treff braucht noch einen Namen, sagt Bischinger. „Freudenhalle!“, entfährt es Kevin Jessa. Könnte vielleicht missverständlich klingen, sagt er und grinst. Arnold Bischinger will Fortuna sprechen lassen und hat in der Halle schon ein Glücksrad aufgestellt, alle Namensideen aufs Rad geschrieben und dann gedreht. Ein Glücksrad in der Leichenhalle, das kann nur der Heilige Geist sein. Er wirkt gewiss auch auf diese Weise. Man muss ihn nur lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein