Teilhabe bei Demenz: Gegen das Vergessen
Immer mehr Menschen erkranken an Demenz. Gerade im frühen Stadium wollen Betroffene noch an der Gesellschaft teilhaben. Wie kann das gelingen?
D ass wir Dinge vergessen, sieht man uns ja nicht an“, sagt Franz an einem Montag im Februar 2023 im Stadtteilzentrum Berlin-Friedenau. Vier Frauen, zwei Männer sitzen in einem nüchternen Mehrzweckraum. Sie gehören zu einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit beginnender Demenz. Franz redet weiter: „Ich will lernen, damit in der Öffentlichkeit umzugehen. Damit man sich nicht schämen muss.“ Er ist erst Ende 50, hat eine vaskuläre Demenz, nicht Alzheimer, er sucht eine Gruppe mit Jüngeren und wird die nächsten Male nicht mehr kommen.
Auch Christian wird wegbleiben, den Franz jetzt fragt: „Bist du noch in anderen Gruppen unterwegs?“ Christian schüttelt den Kopf. Franz: „Du sagst keinen Ton. Reden ist das A und O.“ Hilde: „Man muss unter Leute gehen. Christian, kann es sein, dass du ein Hörgerät brauchst?“ – „Was? – „Du fragst zu viel nach. Das ist dein Gehör, nicht Alzheimer. Du trainierst das Hirn nicht, wenn du nichts hörst.“ – Katia, heute zum ersten Mal da: „Nützt Gedächtnistraining?“
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Außer Franz und einer Sozialpädagogin sind alle Anwesenden über 80. Franz versucht es stets mit einem freundlichen Scherz. Christian hört schlecht und fühlt sich zurechtgewiesen. Katia, Hilde, Gerda und Agathe tauschen sich über Medikamente, Expertenvorträge und Ernährungsfragen aus. Sie frotzeln, fragen nach, geben Infos weiter. Regina Werk von der Kontaktstelle Pflegeengagement leitet die Gruppe. Wer teilnehmen will, muss noch so weit räumlich orientiert sein, um allein kommen und gehen zu können, erklärt sie. „Ich kann keine Heilung bieten“, sagt Werk, „aber sozialen Austausch auf Augenhöhe.“ Niemand in der Gruppe entspricht dem Bild, das wir mit Alzheimer oder Demenz assoziieren: das einer hilflosen, orientierungslosen Person.
„Uns gibt es eben auch“, sagt Hilde, 82, Menschen, die am Anfang ihrer Erkrankung stehen und aktiv an der Gesellschaft teilhaben wollen. Die sechs Menschen im Raum haben zugestimmt, dass eine Journalistin zuhört. Ihre echten Namen wollen sie nicht preisgeben, auch wenn sie für mehr Sichtbarkeit und soziale Teilhabe der Menschen mit Demenz sind. Sie duzen sich, ihre Vornamen sind geändert. Dreimal hat die taz an ihren Treffen teilgenommen.
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1,8 Millionen Menschen mit Demenz leben in Deutschland. Umgangssprachlich werden die Begriffe Demenz und Alzheimer oft synonym gebraucht. Morbus Alzheimer ist eine hirnorganische Erkrankung, die zu einer Zerstörung von Nervenzellen im Gehirn führt und vor allem ältere Menschen trifft. Prinzipiell gilt: Nicht jede Form von Demenz ist Alzheimer, aber alle, die an Alzheimer erkranken, werden irgendwann dement. Andere Demenz-Typen wie die frontotemporale, die vaskuläre und die Lewy-Körper-Demenz äußern sich in den Symptomen ähnlich und sind schwer zu unterscheiden. Etwa 70 Prozent der Menschen mit Demenz haben die Alzheimer-Demenz.
In den nächsten 30 Jahren könnte die Zahl der Demenz-Betroffenen auf 2,8 Millionen steigen. Nicht weil prozentual mehr Menschen an Alzheimer erkranken, sondern die geburtenstarken Jahrgänge das kritische Alter erreichen und diese Generation älter wird als vorige Generationen. Frauen sind stärker betroffen, auch weil sie immer noch etwas älter werden als Männer, möglicherweise gibt es andere Faktoren, die noch nicht ausreichend erforscht sind.
„Es geht lange, dass man nur selbst merkt, dass etwas nicht stimmt“, sagt Hilde, 82, bei einem Treffen in einem Berliner Café. Die pensionierte Ärztin ist groß, fit, schlank. Die rote Lesebrille hebt sich markant von den kurz geschnittenen, dichten, weißen Haaren ab. 2008 bemerkte sie das erste Mal, dass ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. Sie ließ ein MRT machen – keine Auffälligkeiten. Acht Jahre später ließen sich die Symptome nicht mehr ignorieren: zunehmende Vergesslichkeit, Orientierungsschwierigkeiten. „Ich ahnte, was los ist.“ Erneut MRT und eine Lumbalpunktion – eine Untersuchung des Hirnwassers –, die gängigen Verfahren, um eine Demenz- oder Alzheimererkrankung zu klären. „Es war ein Schock. Das MRT zeigte: Das Großhirn war deutlich geschrumpft.“
Sie verfiel zunächst in eine Depression. Im Laufe der nächsten Monate verschlechterte sich Hildes Zustand. „Ich konnte schon am Morgen meine Pillenration nicht mehr ausrechnen. Und wenn ich an einer Ampel stand, wusste ich zwar, was Grün bedeutet, aber nicht, wie ich über die Kreuzung komme.“ Eine endgültige Diagnose bekam sie damals nicht, die Lumbalpunktion blieb ohne Befund. Hilde hat seither keinen Neurologen mehr aufgesucht. Stattdessen las sie sich durch die Alzheimer-Fachliteratur, entschloss sich zu einem höchst rigiden Ernährungsplan, schrieb sich trotzig für einen Englisch-Konversationskurs ein. „Monat für Monat verbesserte sich mein Kopf bis zu dem Zustand, in dem er jetzt wieder ist.“ Im Gespräch ist ihr nichts anzumerken. „Noch gehen die Dinge. Meistens.“ Bürokram und Schriftverkehr mit den Versicherungen falle ihr „phasenweise“ schwer. Englisch lässt sie jetzt sein.
Hilde, 82, Teilnehmerin einer Demenz-Selbsthilfegruppe
Die richtige Ernährung spielt eine wichtige Rolle bei der Alzheimer-Prävention, die Frauen in der Selbsthilfegruppe, darunter mehrere Mediziner:innen, fachsimpeln. Katia interessiert sich für die ketogene Diät, fettreich, kaum Kohlehydrate, gar kein Zucker; Hilde schwört auf ihren eigenen rigiden Ernährungsplan: wenig Kohlehydrate, keine Milchprodukte, Transfette oder Zucker. Gerda hat nicht mal eine Kochplatte zu Hause und kann sich nichts selbst zubereiten. „Wenn ich Diätfehler mache, merke ich das sofort und verwusele mich wieder im Kopf“, sagt Hilde.
Hilde liegt innerlich nicht ständig auf der Lauer. Sie besucht Museen und Konzerte, macht Fitness und Yoga. „Das Wichtige ist nicht der Sport, sondern das soziale Drumherum.“ Ihre Vormittage sind gefüllt. In der Handtasche trägt die 82-Jährige, die allein lebt, einen Zettel mit Kontaktdaten. Sie hat sich früh einen Heimplatz gesichert, der betreutes Wohnen und später Pflege bietet. „Ich informiere mich und lese Sachbücher, so gut ich sie verstehe. Sonst lege ich sie weg. Ich habe gelernt, dass ich nicht alles zu Ende lesen muss.“ Hilde hofft, rechtzeitig einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu bekommen. „Man hat gelebt. Ich sage immer: Ich bin satt.“
Hilde sagt: „Die Zeit fließt ineinander.“ Das geht vielen so, wenn sie älter werden. Namen oder Filmtitel, die einem auf der Zunge liegen, aber nicht einfallen. Verabredungen oder Begebenheiten, die vergessen werden. Kleine Wortfindungsstörungen. Eine Schusseligkeit, die manche schon ein Leben lang begleitet und andere im Alter erschrocken zunehmend bei sich feststellen. Das Gedächtnis lässt nach, lässt uns im Stich. Das Gedächtnis räumt zugleich auf, schafft Platz. Beides sind normale physiologische und psychologische Vorgänge. Was ist gutartige Vergesslichkeit, und welches sind die ersten Anzeichen einer beginnenden Demenz?
„Es gibt einen großen Graubereich“, sagt Oliver Peters, Leiter der Gedächtnisambulanz der Charité in Berlin. „Alzheimer ist eine chronische Erkrankung, die über lange Zeitverläufe hinweg aktiv ist“, erklärt er. Erst im Endstadium führt sie zu schweren kognitiven, psychischen und motorischen Einschränkungen. Eine Alzheimererkrankung dauert durchschnittlich zwischen 7 und 12 Jahren. Was viele nicht wissen: „Alzheimer ist dank der modernen Labordiagnostik inzwischen nachweisbar, viele Jahre, bevor die Symptome überhaupt auftreten.“
Das Gehirn aktiviert in dieser, dem Ausbruch vorhergehenden Phase „eine kognitive Reserve“, erklärt Peters. Schaltkreise mit noch intakten Nervenverbindungen übernehmen die Aufgabe anstelle der geschädigten Nervenzellen. Doch irgendwann ist auch diese Reserve aufgebraucht. Dies ist ein möglicher Grund, warum Menschen, die geistig sehr aktiv waren und oft einen höheren Bildungsgrad aufweisen, erst später von den Folgen von Alzheimer betroffen sind.
Rund 20 ratsuchende Menschen kommen pro Woche neu in Peters’ Gedächtnisambulanz an der Charité, in ganz Deutschland gibt es ein Netzwerk von etwa 100 Gedächtnissprechstunden. Alzheimer ist bisher nicht heilbar. Aber es gibt einen Unterschied zwischen nicht heilbar und nicht beeinflussbar. Es gibt Medikamente, die Symptome lindern und noch aktive Nervenzellen im Gehirn unterstützen, es gibt Verhaltensweisen, die vorbeugend wirken, medizinisch-pharmakologische Forschung, die Fortschritte macht. Außerdem muss sich unser Bild von Menschen mit Demenz ändern: weniger Stigma, mehr Beachtung und ein Quantum Bewunderung täten gut.
Hilde empfiehlt, bei den ersten Anzeichen Rat zu suchen. Desorientierung, kognitive Einbußen oder Gedächtnisverlust sind klassische Symptome, die auf Alzheimer, aber auch andere Ursachen hinweisen können. Dies abzuklären, dafür sind die Gedächtnissprechstunden an den großen Kliniken die richtige Anlaufstelle.
Frank Jessen, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie und Direktor der Psychiatrischen Klinik, leitet die Gedächtnisambulanz an der Uniklinik Köln. „Wir wissen seit etwa 10 Jahren, dass das Auftreten einer Demenz bis zu 40 Prozent vom Lebensstil und potenziell modifizierbaren Risikofaktoren abhängt“, sagt Jessen. „Das heißt, man kann etwas tun im Bereich Prävention.“
Was jeder individuell als Disposition mitbringt, sind: Genetik, Alter und Geschlecht. Beeinflussen lässt sich dagegen bei Alzheimer, was auch gegen Krebs, Schlaganfälle oder Diabetes hilft: gesund essen und Sport, außerdem auch guter Schlaf und kein negativer Stress. „Das sind die üblichen Verdächtigen“, sagt Jessen im Besprechungsraum der Psychiatrischen Klinik Köln. Bei Demenz spräche sich das erst langsam herum. „Das Charmante daran ist, dass man bei Demenzprävention einen erweiterten Benefit nicht nur für den Kopf hat.“
Eine Studie aus der Zeitschrift The Lancet von 2020 listet 12 Risikofaktoren auf, zu denen neben den Komponenten Bewegungsmangel, Blutdruck, Übergewicht auch psychosoziale Faktoren zählen wie Depression, Einsamkeit, also fehlende soziale Interaktion, und schlechtes Hören. Trotzdem müsse man sehr vorsichtig formulieren, sagt auch Jessens Kollege Oliver Peters von der Charité Berlin: „Viele Menschen, die unter Alzheimer leiden, haben nichts falsch gemacht. Die Möglichkeiten durch eine Lebensstiloptimierung sind begrenzt.“ Es kann den Ausbruch hinauszögern oder den Krankheitsverlauf bremsen, aber stoppen lässt sich die Alzheimerdemenz nicht.
Sie ist eine neurodegenerative Erkrankung, die nur in den wenigsten Fällen auf Vererbung zurückzuführen ist. Die genauen Ursachen und biochemischen Prozesse im Gehirn sind nicht geklärt. Kennzeichnend ist die kontinuierliche Zerstörung von Nervenzellen und Zellverbindungen durch veränderte Eiweiße, die sich – durch sogenannte Fibrillen mit Tau-Protein und Plaques aus Beta-Amyloiden – innerhalb und außerhalb von Nervenzellen ablagern. Sie führen dazu, dass die Nervenzellen nicht mehr untereinander kommunizieren können und am Ende absterben.
Wenn jüngere Menschen an Alzheimer erkranken, liegt meist die seltene monogenetische Variante vor. Heute weiß man, dass es sich so bei der ersten Alzheimer-Patientin verhielt. 1901 bemerkte der Psychiater und Neuropathologe Alois Alzheimer bei der erst 51-jährigen Auguste Deter geistige Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Aggressivität. Nach ihrem Tod 1906 ließ er Gewebeproben ihres Gehirns untersuchen und stellte eine geschrumpfte Hirnrinde und Eiweißablagerungen fest. Lange hat man diese Krankheit, die seither den Namen ihres Entdeckers trägt, nicht weiter erforscht und ihren Fall nicht mit Altersdemenz in Verbindung gebracht. Heute weiß man, dass beide Formen der Demenz die gleichen neuropathologischen Charakteristika aufweisen.
Der größte Risikofaktor für Alzheimer ist das Alter. Je älter man wird, desto höher das Risiko. Was nicht den Umkehrschluss zulässt, dass Alter automatisch zu Alzheimer führt. Die meisten, die es trifft, sind über 80 Jahre alt – etwa 15 Prozent der über Achtzigjährigen bezogen auf die deutsche Gesamtbevölkerung. Bei den über 90-Jährigen sind es schon um die 35 Prozent. In der Berliner Selbsthilfegruppe diskutieren sie im März, ob Demenz eine Erkrankung oder, wie eine Teilnehmerin meint, ein Alterungsprozess ist. Die anderen widersprechen. Hilde erwähnt die berühmte „Nonnenstudie“ des Epidemiologen David Snowdon, der in den USA eine Langzeitstudie zu Alzheimer durchgeführt hatte.
678 Ordensschwestern eines Klosters wurden dafür ab 1986 über 15 Jahre bis zu ihrem Tod begleitet. Sie starben hoch betagt, ohne je Anzeichen von Alzheimer gezeigt zu haben. Eine Obduktion nach ihrem Tod ergab, dass zwei Drittel der Nonnen dennoch die für Alzheimer typischen Eiweißablagerungen im Hirn aufwiesen. Die sinnstiftende Einbindung in eine Gemeinschaft und lebenslange geistige Aktivität mögen zu ihrer besonders ausgeprägten „kognitiven Reserve“ beigetragen haben.
Die fortschreitende Medizin und ihre Diagnostik ist seit gut zwanzig Jahren mittels Biomarkern – also mit Labordiagnostik – in der Lage, das für Alzheimer charakteristische Eiweiß Beta-Amyloid in Hirnwasser frühzeitig festzustellen. Wichtig sind auch zusätzliche Proteintypen wie zum Beispiel das Tau-Protein. Vielleicht können in Zukunft sogar Biomarker im Blut die aufwändigeren bildgebenden Verfahren durch MRT, CT oder nuklearmedizinische Substanzen zum Teil verzichtbar machen. Auch die pharmakologische Forschung kommt voran. In den USA wurde im Januar ein neues Präparat zur Behandlung zugelassen. „Wir setzen große Hoffnung dahinein, diese Ansätze auch in Europa zu bekommen“, sagt Frank Jessen von der Uniklinik Köln.
Lecanemab, so der Name des Wirkstoffs, basiert – vereinfacht gesagt – auf der Gabe von speziellen Antikörpern, die sich an die Eiweiß-Kaskaden anlagern und diese, vom körpereigenen Immunsystem angeregt, zerstören. Dies führt, erklärt der Kölner Demenzexperte, „zu einer signifikanten Verlangsamung der Symptome, leider aber nicht zum völligen Stillstand oder zur Heilung“. Für die Forschung sei es dennoch „ein Meilenstein“, da man zeigen konnte, dass eine Reduktion der Eiweißplaques grundsätzlich möglich ist und damit die Krankheit verzögert werden kann.
Sein Kollege von der Berliner Charité ist vorsichtig optimistisch. „Es ist eine durchaus realistische Vision in der klinischen Forschung“, sagt er, „dass, wenn die Alzheimererkrankung früh genug erkannt und früh genug behandelt wird, es gar nicht zur Demenz kommt. Allerdings sind die Laufzeiten der klinischen Studien aufgrund des langsamen Fortschreitens von Alzheimer sehr lang.“ Für die EU ist die Erprobung des neuen Medikaments bei der Europäischen Arzneimittelagentur beantragt, mit einer Entscheidung wird im Frühjahr 2024 gerechnet.
Bis dahin heißt es nicht warten, sondern singen. Hilde aus der Selbsthilfegruppe des Stadtteilzentrums Friedenau geht zweimal im Monat zum Chor. Mit einer Freundin hatte sie sich außerdem für das „Musik und Demenz“-Projekt Resonare angemeldet. Seit ersten Presseberichten ist das Interesse daran groß, die Warteliste lang und Hilde zu ihrem großen Bedauern nicht dabei.
Resonare bringt Menschen mit Demenz mit Gesang zusammen. Das Projekt wird privat gefördert von der Manfred Strohscheer Stiftung und wissenschaftlich begleitet von Oliver Peters und seinem Team an der Charité. Beheimatet ist Resonare an der Komischen Oper Berlin. Anders als die Selbsthilfegruppe in Friedenau ist Resonare für Erkrankte und ihre Angehörigen konzipiert. Auch sie brauchen Erleichterung, genießen Ablenkung und Spaß. Andererseits bedeutet dies, dass die Teilnehmenden einen Angehörigen oder vertrauten Menschen haben müssen, der sie regelmäßig in die Komische Oper begleitet.
An einem Nachmittag im April sitzen knapp ein Dutzend Paare im Foyer des ersten Stocks des Opernhauses mit seinem langen Tresen, den dunkelgrün gestrichenen Wänden, dem roten Fußboden, den kugelrunden Lampen, den großen Fenstern und bogenhaften Wanddurchbrüchen. Ein stilvolles Ambiente. Ein Pianist begleitet die Gruppe am Klavier. Wie in jedem Chor gibt es moderate Lockerungsübungen. Schulterkreisen, Arme fallenlassen, dem Partner oder der Partnerin kurz den Nacken massieren.
„Der Dienstag ist wie ein Magnet“, sagt ein Mann, der mit seiner Frau bei der Begrüßungsrunde im Stuhlkreis sitzt. „Er hebt sich von den anderen Tagen der Woche ab.“ – „Kann nicht immer Dienstag sein?“, fragt ein anderer. – „Schon auf dem Weg von der U-Bahn fällt der Alltag von mir ab“, sagt jemand Drittes. – Einem Mann fehlen die Worte. „Dabei hat er doch heute im Tischtennis gewonnen“, sagt seine Frau für ihn. – „Wir schweben noch“, erzählt Anouk Kopps, die betreuende Musikpädagogin. In der Woche zuvor waren der britische König Charles III. und seine Frau Camilla zu Besuch.
„Was wollt ihr singen?“, fragt Kopps. Zur Auswahl stehen knapp 100 Lieder aus einem Reader. Von „Alle Vögel sind schon da“ bis zu „Mamma Mia“ ist alles dabei. Volkslieder, die sich nach der Jahresuhr ordnen lassen. In jedem Lied steckt Material für biografische Anknüpfungspunkte. Es ist April, Osterzeit, Frühjahr. „Habt ihr einen Lieblingsmonat?“, fragt Kopps. November, sagt ein Mann; es stellt sich heraus, dass das sein Geburtsmonat ist. Für eine Frau ist es der Mai. „Welche Insekten zeigen sich?“, fragt Kopps. Hummeln, Wespen, Bienen, Mücken. Die Gruppe singt „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum“. Dabei kraulen sie einander den Rücken. Nicht alle machen mit, nicht alle singen immer mit. Die Atmosphäre ist herzlich, zugewandt.
Manche finden im Verlauf der anderthalb Stunden ihre Stimme wieder. „Jetzt kann ich wieder sprechen“, sagt Christine Merkel, 85 Jahre alt. Sie ist mit ihrer Tochter da. „Oft bin ich vorher verstummt.“ Nicht nur der Verlust von Orientierung, sondern auch der zunehmende Verlust von Sprache macht Menschen mit Demenz zu schaffen. Musik spielte in Merkels Familie eine große Rolle. „Wir hatten ein Klavier zu Hause und haben immer mehrstimmig gesungen. Aber jetzt sind die Noten davongeflogen, wenn ich spiele. Nur die Hände erinnern sich.“
Musik emotionalisiert und kann Unausgesprochenes oder Verschüttetes verbalisieren helfen. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die die positive Wirkung von Musik für Menschen mit Demenz aufweisen. Das liegt daran, dass das musikalische Gedächtnis weit verzweigt im Gehirn angelegt ist und daher viel länger geschützt bleibt vor den zerstörerischen Auswirkungen von Alzheimer. Außerdem ist das musikalische Empfinden eng verknüpft mit positiven Emotionen aus der Kindheit, die ebenfalls im Langzeitgedächtnis abgespeichert sind und lange intakt bleiben. In der musiktherapeutischen Praxis wird deswegen das Arbeiten mit individualisierten Musikstücken angewandt. Doch Singen ist mehr als Hören: Es trainiert das Kurzzeit- und das Arbeitsgedächtnis, aktiviert das Areal für räumliches Denken und Sprache und stimuliert die Großhirnrinde, wo die Motorik sitzt.
Christine Merkel sitzt da, die Hände im Schoß gefaltet, und lächelt. Schüchtern, zufrieden. Seit 2019 ist sie mit Alzheimer diagnostiziert. Ihre Tochter Christine, 53, die genauso heißt wie ihre Mutter – „eine Laune des Vaters“ –, erzählt, die Anzeichen hätten sich schon früher deutlich gezeigt. „Als wir vor zehn Jahren einmal vor dem KaDeWe verabredet waren und meine Mutter nicht auftauchte, wusste ich, dass etwas nicht stimmt.“ Das Kaufhaus kennt in Berlin jede. „Wir haben jetzt vertauschte Rollen, das Mutter-Kind-Verhältnis dreht sich um“, sagt die Tochter. „An manchen Tagen spure ich nicht“, sagt die Mutter mit leisem verschmitztem Lächeln, die mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes noch allein lebt. Und an anderen Tagen vergisst sie zum Beispiel zu essen.
Gegenüber den Merkels haben Helga Weber und Wolfgang Schneidt Platz genommen, sie gehen im Anschluss an das Singen im Kasino der Komischen Oper essen. „Wir hatten von Anfang an das Gefühl, hier entspannt sein zu können“, sagt Weber, 86. „Wir wissen alle, wie es um uns steht.“ Wenn ihr Partner auch sonst die Tage durcheinanderbringe, sagt sie, „den Dienstag nicht“. Schneidt, drei Jahre jünger, ist an Alzheimer erkrankt. „Ja“, sagt er nur.
Wie lebt es sich mit fortschreitender Demenz? Schneidt und Merkel können beide noch gut rechnen, erzählen sie. Lesen sie noch? Merkel liest, wenn auch viel langsamer als früher, Schneidt fast nur noch laut. Die beiden Merkels telefonieren täglich. „Am Telefon nehme ich dich anders wahr“, sagt Tochter Christine. Alle vier nicken. „Dann leuchtet deine Seele wie früher.“ Helga Weber kennt das Phänomen. „Das bewirkt die Distanz, weil man die veränderte Mimik nicht sieht.“ Nur in besonderen Momenten schimmere manchmal die alte Persönlichkeit des Menschen mit Demenz durch. „Ich bin oft zu schnell“, sagt Weber und man sieht, dass sie sich die Ungeduld nur schwer verzeiht. „Ich sehe dann den Menschen, wie er vor 40 Jahren war und nicht, wie er heute ist.“
Musik machen oder hören – das sind Aktivitäten, die eine Demenz nicht aufhalten können. Aber sie haben erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität des Erkrankten. Zwischen Händen und Hirn, Füßen und Kopf werden Nervenverbindungen stimuliert. In Hildes Selbsthilfegruppe ist das Buch „Daumenyoga“ populär. Hilde macht eine Übung vor. Daumen und kleiner Finger berühren sich, dann kommen nacheinander Ring-, Mittel- und Zeigefinger an die Reihe. „Wichtig ist: Die Übung langsam zu machen und ruhig atmen“, erklärt sie.
Lebensqualität bemisst sich nicht nur an kognitiver Funktionalität, sondern auch daran, ob Menschen mit Demenz ein Umfeld haben, das sie auffängt. Die Teilnehmer:innen von Resonare haben ein wohlgesonnenes Umfeld, es ist ein Pilot- und Vorzeigeprojekt. „Wir arbeiten an der Frage, inwiefern Resonare als Modell auf andere Orte übertragbar ist“, sagt Oliver Peters von der Charité. Die langfristige wissenschaftliche Auswertung steht noch aus. „Wir sehen aber schon jetzt“, sagt er, „dass die Teilnehmenden ausgeglichener sind, mehr selbst tun können und weniger Unterstützung brauchen.“ Manche litten dann auch weniger unter den typischen neuropsychiatrischen Merkmalen der Alzheimererkrankung wie Unruhe, Aggressivität oder Angstzustände. Gerade in der Generation der Kriegskinder kommen verschüttete Traumata und verdrängte Ängste wieder hoch.
Christine Merkel, 53, sagt: „Meine Mutter gehört zu einer sehr bescheidenen, dankbaren Generation. Wir Jüngeren können von ihnen lernen. Für uns wird das im Alter härter zu ertragen sein.“
Wolfgang bedanke sich jeden Abend bei ihr, erzählt seine Partnerin Helga. Morgens studiert er die Wolkenformationen des Himmels und beschreibt ihr en détail Balkone und Fassaden auf der anderen Straßenseite. Farben zu erkennen, fällt ihm dagegen schwerer. Die Welt entzieht sich langsam.
Christine Merkel, die Jüngere, sagt: „Die Welt wird kleiner. Aber wenn das Außen drumherum keine Angst macht, dann kann es auch gemütlich sein in dieser kleinen Welt.“ Ihre Mutter lächelt und sagt: „Ich bin glücklich.“
Singen ist gut, tanzen tut gut, und manchmal machen sie bei Resonare beides. Ende April tanzen sie in den Mai. Statt wilder Party: Tanztee am Nachmittag im Foyer der Komischen Oper. Draußen scheint die Sonne, einige haben sich schick gemacht. Es gibt Erfrischungsgetränke und Salzstangen. Zwei Tanzlehrerinnen sind gekommen, kleine Aufwärmübung, sie beginnen mit langsamem Walzer. Ein Schritt vor, zwei zurück. Die Tanzhaltung, sagt die Lehrerin, ist wichtig. In die Augen gucken, sein Gegenüber anlächeln und fragen: Darf ich bitten?
Es sind einfache Schrittfolgen, die für alle eine Herausforderung sind, für Menschen mit und ohne Demenz. Welches Bein, welcher Schritt als nächstes? Die Tanzlehrerinnen springen ein und helfen aus, wenn Paare feststecken. Nach einer Stunde öffnet sich der Tanztee zum Freestyle. Der Pianist spielt Boogie-Woogie, alle twisten. Helga und Wolfgang wogen bedächtig in der Menge. Früher haben sie auch getanzt, aber nicht Standard wie heute.
Die Selbsthilfegruppe trifft sich auch im April wieder im Stadtteilzentrum in Berlin-Friedenau. Die vier Anwesenden fragen: „Kommt Christian nicht mehr?“ Hilde: „Ich vermute, er klinkt sich aus.“ – Regina Werk, die Sozialpädagogin: „Ich hatte das Gefühl, es geht ihm nicht gut. Ich rufe ihn nachher an.“ – Gerda hat einen stressigen Morgen hinter sich. Ihr Auto sprang nicht an, dreimal musste sie überlegen, ob sie ihre Tablette genommen und die Tür abgeschlossen hat. „In solchen Situationen frage ich mich: Ist es Stress oder ist es nun so weit?“ – Hilde: „Das geht uns allen so.“
Katia: „Was macht ihr, damit der Alzheimer besser wird?“ – Agathe: „Ich lebe mein Leben normal weiter. Im Alltag unterlaufen mir kleine Fehler. Das ist dann so.“ – Regina Werk: „Habt ihr einen Pflegegrad beantragt?“ – Hilde und Agathe schütteln energisch den Kopf. „Wir würden ohnehin keinen bekommen.“ – Regina Werk: „Dann wärt ihr aber aktenkundig, und wenn sich euer Zustand verschlechtert, geht es schneller mit Haushaltshilfe und Begleitdienst.“ – Hilde: „Ich würde mich schämen, jetzt einen Pflegegrad zu beantragen.“
Die Sozialpädagogin hat Christian angerufen, Hilde ihm geschrieben. Er zieht sich zurück. Mit seinen Söhnen will er ein Heim anschauen, erklärt er am Telefon. „Der Prozess geht immer schneller bei mir.“ Hilde tut es leid, dass sie ihn möglicherweise verschreckt hat, als sie ihn auf sein schlechtes Hören ansprach. „Ich bin nicht immer sehr diplomatisch.“ Dafür geradeheraus.
Sie hat einen Weg gefunden, mit ihrer Situation umzugehen. Im Café erzählt sie von einem Gespräch mit einer Freundin, die gefragt wurde, warum sie denn noch Bücher lese, wenn sie alles sofort wieder vergesse. Die Antwort: Weil es in dem Moment einfach schön ist.
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