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Vor der Stichwahl in der TürkeiDie fünfte Kolonne

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Der Oppositionskandidat bei der Stichwahl in der Türkei, Kemal Kılıçdaroğlu, hetzt für Wählerstimmen gegen Geflüchtete. Das ist riskant.

Wenn Kılıçdaroğlu noch eine Chance haben will, braucht er Stimmen aus dem rechten Lager Foto: Emrah Gurel/ap

D er Oppositionskandidat bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei, Kemal Kılıçdaroğlu, immerhin Hoffnungsträger der Linken gegen Recep Tayyip Erdoğan, hetzt gegen Flüchtlinge und erklärt Terrorismusbekämpfung zum obersten Ziel. Wie geht das zusammen? Die einfache Erklärung ist: Wenn Kılıçdaroğlu im zweiten Wahlgang noch eine kleine Chance haben will, braucht er Stimmen aus dem rechten Lager. Wie immer bei solchen taktischen Wahlkampfmanövern ist damit das Risiko verbunden, erstens das rechte Original zu stärken und zweitens seine eigentlichen Anhänger so zu demotivieren, dass sie bei der Stichwahl gar nicht mehr wählen gehen.

Linksliberale winken denn auch ab und sagen: Was Kılıçdaroğlu von sich gibt, darf man nicht ernst nehmen. Es ist Wahlkampf in einer zunehmend verzweifelten Lage. Das gilt weitgehend, mit Ausnahme der syrischen Flüchtlinge. Wenn auch nicht in schrillen Tönen wie jetzt, ist sich die Opposition doch in weiten Teilen einig, dass die aus Syrien Geflüchteten über kurz oder lang zurückgehen sollen.

Das hat einen klaren Grund. Für den größten Teil der Kılıçdaroğlu-WählerInnen sind die Syrer eine Art fünfte Kolonne Erdoğans. Kılıçdaroğlu ist der Kandidat des säkularen Lagers; die meisten SyrerInnen sind strenggläubige Muslime bis hin zu politischen Islamisten.

Spricht man mit Linken, sagen sie, Erdoğan hat die Geflüchteten ins Land gelassen, um mit ihrer Unterstützung eine ihm genehme Regierung in Damaskus durchzusetzen, ist Assad erst einmal gestürzt. Die Kurden mussten sogar erleben, dass Erdoğan syrische Islamisten im Kampf gegen sie eingesetzt hat. Sollte die Opposition gewinnen, wird sie deshalb die Muslimbrüder ausweisen, die mit Erdoğans Hilfe ihr Hauptquartier in Istanbul aufgeschlagen haben, und dann den Druck auf alle syrischen Geflüchteten erhöhen.

Da Baschar al-Assad den Krieg vorläufig gewonnen hat, hat auch Erdoğan die SyrerInnen in der Türkei fallengelassen und sucht nun mithilfe Putins nach einem Deal mit Assad, um sie zurückschicken zu können.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei