Eurovision Song Contest: Sieger der Herzen nur Zweiter
Große Show beim 67. Eurovision Song Contest in Liverpool. Siegerin wurde die Schwedin Loreen. Und Deutschland: mal wieder Allerletzter.
Es ist bestimmt nicht leicht, aus einer auf vier Stunden angesetzten Show, die qua Konzept einem strengen Zeitregime unterliegt, wenigstens einen Moment der Rührseligkeit abzupressen. Doch es gab ihn am Samstagabend in der Mehrzweckhalle am Liverpooler Hafen beim 67. Eurovision Song Contest. Und der war, als beim Programmpunkt „coole ESC-Heroinnen* singen Liverpooler Liedgut“, einen Reigen, den der Italiener Mahmood mit dem Lennon-Schlager „Imagine“ begann, über Netta Barzilai (Israels Siegerin 2018), beim Niederländer Duncan Lawrence (ESC-Sieger von 2019) endete – mit der Hymne dieser englischen Stadt schlechthin, dem Fußballtrostlied „You’ll never walk alone“.
Ein von Schmalz in jeder Hinsicht überfrachtetes Stück Pop, im Original von Gerry & the Pacemakers, dauerpräsent beim FC Liverpool im Stadion wie auch am Millerntor beim FC St. Pauli, jetzt vom ESC-Sieger dargeboten in einem schockierend schönen bodenlangen schwarzen Mantelteil.
Zu seinem Schlussrefrain kamen die Moderatorinnen* und jede Menge andere Menschen, die an dieser Show gearbeitet haben, zu ihm auf die Bühne geschritten, als sei es ein gegenderter Western: „The Loveful 50!“. Sie verbürgten symbolisch, dass niemand bei diesem Festival allein zu gehen hat, keiner einsam oder abgehängt sein muss, und sahen so aus wie ein von Quentin Tarantino mit purer Entschlossenheit ausgerüsteter Schutzwall.
Das war der vielleicht stärkste Teil dieser Show. Auch deshalb, weil alles andere ohnehin von eurovisionärer Welt- bis Europaklasse war, bei der im Übrigen die deutsche Metal-Gothic-Rock-Band Lord of the Lost ein Erfolg auch nur näherungsweise missgönnt war: Von den Jurys auf den letzten Platz gepackt, vom Televoting aus den 37 Ländern auch kaum mit Punkten bedacht – sie wurden so zu den Allerletzten.
Professionalität ersetzt keinen Kampfgeist
Bis 1996 kamen ESC-Resultate durch Jurywertungen zustanden. Televoting, also eine Art eurovisionäre Volxabstimmung, war technisch nicht möglich. Zugleich aber sollte, wie im klassischen Kulturbetrieb, die Hoheit juryeller Entscheidungsgewalt (gegen alles im Prinzip Populäre) nicht angetastet werden. Unter Einfluss des in der ARD ESC-tonangebenden NDR, zwecks Einbindung des Publikums, wurde 1997 begonnen, Televoting einzuführen, wenige Jahre später war die Abstimmung per Zuschauervoting verbindlich – bis auf Länder, in denen keine ausreichenden Telefonnetze vorhanden sind, die Türkei, Russland, Ungarn.
2006, nachdem mit der finnischen Band Lordi und ihrem Metalsong „Hard Rock Hallelujah“ ein Act, der den auf Popularität-ist-egal erpichten ESC-Funktionären in vielen Ländern nicht gefiel – heute ein Klassiker in der ESC-Hall of Fame, gewann, begann das Rollback des konventionell-industriell geeichten Geschmacks: Jurys mit Vertreterinnen* sog. kultureller Berufe, das heißt faktisch solche der an den Nadeln der Musikindustrien hängenden Männern und Frauen, bekamen wieder 50 Prozent Stimmgewicht.
Möglich war die Jury-Wiederbelebung, weil – in Deutschland berüchtigt: Stefan Raab mit seiner falschen Verschwörungsthese, Deutschland schneide wegen osteuropäischer Blockabstimmungen immer so schlecht ab – viele Resultate in der Tat erratisch wirkten: aus Italien gab es für rumänische Acts viele Punkte, aus Irland für polnische Beiträge, aus Deutschland notorisch für die Türkei. Das waren sog. Diaspora-Wertungen, die sich im GroßenGanzen aber immer ausglichen.
Dass Jurys und Televoterinnen* in ihrem Urteil sich einig sind, ist öfters vorgekommen: Conchita Wurst mit ihrem „Rise Like a Phoenix“ lag 2014 in beiden Wertungssträngen vorne. Die russische (und andere postsowjetische Jurys) erkannten der Österreicherin keine Punkte, deren Televoting-Resultate gaben der späteren Siegerin hingegen viel Zustimmung.
In der Tendenz werten die Televoting-Communities mutiger. Sie belohnen eher künstlerisches Risiko als die an den Standards der Popindustrie orientierten Jurys. Während Jurys – wie einst beim Eiskunstlaufen die Disziplin der „Pflicht“, also nur den sauberen Kufenlauf – das popindustrielle Handwerk belohnen, bevorzugen Televoting-Communities eher das Momentum in Livesituationen wie eben bei einem Grand Final Samstag Abend in Liverpool: Der Finne Käärijä wirkte bei seinem Act fast spontan (auch wenn alles hundertfach geprobt war), während die Schwedin Loreen sekundenakkurat ein Modul abzuwickeln hatte.
Der Finne bekam beim Televoting fast stets Höchstwertungen, die Schwedin hingegen kein einziges Mal aus irgendeinem Land die vollen zwölf Punkte.
Der Abend bis in die Nacht zum Sonntag kümmerte sich um das Schicksal der Deutschen – die nun mit neun letzten Plätzen seit 1957 am häufigsten von den ESC-Gerichten (ob Televoting oder per Jury) auf den Rang der Überhör und -sehbarsten verbannt wurden – nicht weiter. Dieser Song namens „Blood & Glitter“ sollte doch den deutschen Wiederanschluss an die europäische Popmoderne schaffen, eine Art Wärmepumpe an die andernorts passabel funktionierende Klimatransformation.
Bloß kein torfig-staubiges Image mehr haben, ein Land der ästhetischen Ödnis zu sein, dafür ein Bild für Frische und Unverzagtheit abzugeben: Das war wohl nix – und im Ohr und in den Augen noch die anderen Acts darf man sagen: Da war wohl nicht mehr drin. Professionalität ersetzt keinen Kampfgeist mit Herz.
Nicht so wie beim Belgier Gustaph, bei der Armenierin Brunette, bei der Norwegerin Alessandra oder den Kroaten von der Band Let 3, von der Israelin Noa Kirel oder dem ukrainischen Duo Tvorchi: Sie alle spulten keine Nummer ab. Man merkte ihnen an, dass es wirklich um ein gutes Abschneiden und die Lust an der eigenen Performance ging.
Am Ende des Abends – von der auch rappenden Alesha Dixon, der allseits souverän gutgelaunten, wie eine Bühnenmarschallin operierenden Hannah Waddingham, der smarten Ukrainerin Julija Sanina und dem so schön pointiert spöttelnden Graham Norton cool und locker moderiert – gab es eine Gewinnerin, die zwiespältige Gefühle hinterließ.
Europa wollte seine gute Laune und Optimismus
Loreen aus Schweden gewann mit „Tattoo“, einem sphärisch-dreivierteldepressiven Stück, weil die Jurys, also die Instanz der Musikindustrie und ihrer Angehörigen (in Deutschland: die keineswegs irgendwelcher ästhetischen Expertimente verdächtige Katja Ebstein und andere), sie konservativ-konventionell nach vorne voteten.
Ihr Lob galt dem Erwartbaren. Sieger der Herzen aber wurde der Finne mit dem Künstlernamen Käärijä, ein Sympath sondergleichen, der finnischen Elektro-Techno-Cha-Cha-Cha ablieferte – und wie. In Grün teilgewandet, sein Non-Six-Pack mit Lust zeigend, die Nails frühlingsgrün, die Augen fett kajalisiert: Europa wollte ihn mit seiner guten Laune, seinem Optimismus, ausgedrückt in seinem Lied, das eine Kritik an männlicher Gröl-Besoffenheit nach Feierabend zum Thema hatte.
Aus der Ukraine gab es beim Televoting auch zehn Punkte. Die dortige Jury zeigte sich indigniert und gab nix. Aber weil der Finne bei den Jurys (eben: den Sachwaltern der Musikindustrie, der Konventionalität) kaum punktete, siegte eben die Schwedin, die schon 2012 mit „Euphoria“ gewann – und mit dem gleichen Rezept (düstere Erhabenheit im esoterischen Irgendwas mit der Suggestion von Dauertraurigkeit) wieder die Nägel (bei ihr: aus dünnst geschliffenen Steinen) vorn hatte. Sie lag während ihrer Darbietung in einer Art Sonnenbank, die sich in der Liverpooler Halle eher bescheiden ausnahm.
Konservative Jury
Das Publikum in der Arena, bangend offenbar darum, dass die Schwedin so eine Art Bayern-München-artige Meisterschaft zugepunktet bekommt, fast wie automatisch, weil schon Wochen vorher dauerfavorisiert, rief es wie im Fußballstadion zum Schluss „Cha Cha Cha“.
Hätte der Finne gewonnen, wäre diese Location – Sänger und seine Delegation inklusive – vermutlich explodiert vor Glück. So blieb es beim respektvollen Beifall für eine Sängerin, die künstlerisch den Eindruck nahelegt, als herrsche über Europa (und Australien und Israel) ein Schleier der Verzweiflung. Der Finne, wie gesagt der deutliche Sieger der Volxabstimmung, vertrat die Gegenthese, am Triumph durch die Jurys ausgebremst.
Und die Ukraine? Keine Sekunde war dieser ESC ein nichtukrainischer. Die Interval-Acts, einschließlich der Vorjahressieger, das Kalush Orchestra, waren durch ukrainische Stars besetzt, alles war wie in Blau-Gelb gewandet. Die Entscheidung der Organisatoren, Ukraines Präsident Wolodimir Selenski kein Grußwort sprechen zu lassen, war falsch, aber anders als das IOC, dem olympischen Weltverband, gab es auch keinen Zweifel: Russland (und Belarus) werden nicht so schnell wieder willkommen sein, sie bleiben ausgeschlossen.
Nächstes Jahr in Schweden, der 68. ESC, zum 50. Geburtstag des Siegs von Abba in Brighton, als sich der ESC aus dem Sumpf der konservativen Ecke holte. Diese Chance wurde in diesem Jahr vertan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Wahlkampfchancen der Grünen
Da geht noch was
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!