Massengrab in der Ukraine: Die namenlosen Toten von Isjum

In der ukrainischen Stadt Isjum wurde nach Abzug russischer Truppen das bislang größte Gräberfeld entdeckt. Die Identifizierung mancher Opfer ist kompliziert.

Rückenansicht einer Person auf einem Schnee bedeckten Waldboden

Tymur Tertyschny im Februar zwischen Gräbern im Wald von Isjum Foto: Volodymyr Kutsenko

ISJUM taz | Im vergangenen September, wenige Tage nach der Befreiung eines Teils der ostukrainischen Region Charkiw nach fünf Monaten russischer Besatzung, wurden in einem Wald am Rande der Stadt Isjum Hunderte Gräber entdeckt. Damals schockierten die Aufnahmen von Gräbern mit Holzkreuzen, auf denen Zahlen statt Namen standen, die ganze Welt. Bis heute ist dies das größte Massengrab, das seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 in der Ukraine gefunden wurde. In Dutzenden von schier endlos langen Gräberreihen zwischen Kiefern wurden die Leichen von 447 Menschen gefunden, die bei Kämpfen starben oder während der Besatzung getötet worden waren. Die Besatzung hatte von April bis September gedauert.

Die sterblichen Überreste wurden exhumiert und zu forensischen Untersuchungen geschickt, um sie zu identifizieren. Experten stellten fest, dass die meisten der dort Bestatteten eines gewaltsamen Todes gestorben waren – durch Artilleriefeuer, Minenexplosionen und Luftangriffe.

Aber es gab auch Foltertote. Bei den Untersuchungen wurden Leichen mit Seilen um den Hals, gefesselten Händen, gebrochenen Gliedern und Schusswunden gefunden. Mehreren Männern waren die Genitalien amputiert worden. Nur 22 der entdeckten Leichen gehörten dem ukrainischen Militär an, alle anderen waren Zivilisten – 215 Frauen, 194 Männer und 5 Kinder. Bei 11 Toten konnte das Geschlecht nicht festgestellt werden.

Sechs Monate danach bleibt die Identifizierung ein Problem

Doch selbst sechs Monate nach der Befreiung des größten Teils der Region Charkiw ist die Identifizierung der Leichen immer noch ein großes Problem. Laut Timur Tertyschny, Leiter der Ermittlungsabteilung von Isjum, seien die meisten Toten bereits identifiziert worden, aber es gebe immer noch dutzende Leichen, bei denen das sehr schwierig sei.

Leichen wiesen Folterspuren auf. Einigen Männern waren Genitalien amputiert worden

Nach der Exhumierung werden den Leichen DNA-Proben entnommen und diese Informationen dann in eine gemeinsame Datenbank eingegeben. Wenn Menschen nach ihren vermissten oder verstorbenen Angehörigen suchen, machen sie einen DNA-Schnelltest. Wenn es Übereinstimmungen gibt, folgt eine genauere Untersuchung, um das Verwandtschaftsverhältnis zu bestätigen. Das alles nimmt viel Zeit in Anspruch.

Tertyschny räumt jedoch ein, dass, wenn die Leiche von Verwandten identifiziert worden oder mit Sicherheit bekannt sei, in welchem zerstörten Haus der Verstorbene gelebt habe, versucht werde, den oder die Tote/n schneller zu identifizieren – zum Beispiel anhand des Gebisses.

Eines der häufigsten Probleme ist, dass Verwandte, die einen DNA-Test machen könnten, kaum auffindbar seien. Entweder gibt es solche Menschen einfach nicht – sie sind verstorben, ins Ausland gegangen oder sie werden vermisst, weil sie während der Besatzung nach Russland zwangsdeportiert wurden. Dies ist einer der Gründe, warum in den Leichenhallen von Charkiw noch immer so viele nicht identifizierte Leichen von Menschen liegen, die während der Besatzung der Region zu Tode gekommen sind.

Ein weiterer Grund, der eine Identifizierung schwierig bis unmöglich macht: Die exhumierten sterblichen Überreste weisen keine DNA-Spuren auf, weil die Leichen zu schwer verbrannt waren. In Charkiw versuchen medizinische Experten in solchen Fällen zusammen mit internationalen Kollegen die Toten mithilfe einer Knochenmark­analyse zu identifizieren. Dies ist jedoch eine technisch sehr schwierige und lange Prozedur.

Weitere Massengräber in der Region Charkiw gefunden

Außer dem Massengrab in Isjum findet und exhumiert die Polizei auch jetzt noch immer wieder einzelne Gräber. Bis Februar 2023 wurden mehr als 180 Leichen in solchen Gräbern im befreiten Teil der Region Charkiw gefunden. Doch das sind nicht die einzigen stummen Zeugen grausamer Verbrechen. „Allein in der Gemeinde Isjum wurden neun Folterkammern gefunden, fünf davon befanden sich direkt in der Stadt Isjum. Jedes Mal hoffen wir, dass wir alle Leichen bereits geborgen haben, doch dann kommt die nächste Nachricht über eine neue Grabstätte“, sagt Timur Tertyschny. Ihm zufolge handele es sich häufig um Leichen, die Folterspuren aufwiesen. Bei den meisten seien oft ähnliche Merkmale feststellbar: Hinter dem Rücken gefesselte Hände, eine Tasche, die über den Kopf gezogen wurde. Der Tod sei dann die direkte Folge eines Hirntraumas. „Das heißt, eine solche Person wurde einfach zu Tode geprügelt. Am häufigsten wurden auf diese Weise Männer getötet, die im Donbass gekämpft haben“, erklärt Tertyschny.

„Sie wurden regelrecht hingerichtet“

An einen Ort erinnert er sich immer noch mit Grausen. In einem Dorf in der Nähe von Isjum, in einer Art Ferienanlage im Wald, hatte das russische Militär sein Hauptquartier eingerichtet. Nach dem Ende der Besatzung fand die ukrainische Polizei dort eine mehrere Meter tiefe Foltergrube, darin die Leichen zweier Männer. Sie waren aneinander gefesselt – der Arm des einen an das Bein des anderen. Der eine war durch Schüsse in die Schläfe, der andere durch Schüsse in den Hinterkopf getötet worden.

„Sie wurden regelrecht hingerichtet. Es gelang uns, sie zu identifizieren – es waren Bewohner eines Nachbardorfes, die ihren Freund besucht hatten. Das russische Militär hatte sie wegen des Verdachts auf Spionage festgenommen“, sagt Tertyschny.

Der Polizist aus Isjum betont, dass auch gegen die russischen Einheiten ermittelt werde, die während der Besatzung hier gewesen seien

In derselben Ferienanlage sei die Leiche eines ukrainischen Soldaten gefunden worden, an dessen Körper Gerichtsmediziner 15 Schusswunden am Rücken, Strangulationsspuren, Schnittwunden am Hals und in der Leistengegend festgestellt hätten. Den Ermittlungen zufolge sei auch er in der Grube gefoltert worden.

„Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich die Russen hier wie Barbaren benommen haben. Sie haben vergewaltigt, gefoltert und exekutiert – sowohl Militärs als auch Zivilisten. Sie haben sich definitiv wie Faschisten verhalten“, ist Tertyschny überzeugt, der hier an den Untersuchungen aller Verbrechen beteiligt ist. Wie zur Bestätigung seiner Worte öffnet er eine Bildergalerie auf seinem Mobiltelefon. „Das habe ich in einer der Folterkammern aufgenommen. Und sehen Sie mal, was ich an mehreren Stellen gefunden habe“, sagt er. An einer Wand des Folterkellers steht geschrieben: „Wahrheit macht frei.“

Der Polizist aus Isjum betont, dass auch gegen die russischen Einheiten ermittelt werde, die während der Besatzung hier gewesen seien. Seinen Worten zufolge seien an Folterstätten und in ehemaligen russischen Hauptquartieren zahlreiche Dokumente gefunden worden, die die Russen bei ihrem Abzug zurückgelassen hätten. Dies helfe nun, um sie zu identifizieren. „Es ist hart für uns, aber wir arbeiten daran, dass jeder dieser Kriminellen eine faire Strafe erhält, die ein Gericht festlegt. Diese Straftaten unterliegen keiner Verjährung“, sagt er. „Ich glaube daran, dass sie alle bestraft werden. Nicht nur diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, sondern auch diejenigen, die sie hierhergeschickt haben.“

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.