Amoktat bei Zeugen Jehovas in Hamburg: Polizei und Schießklub im Visier

Verdacht auf fahrlässige Tötung und gefälschte Urkunden: Ermittler durchsuchten die Wohnungen eines Polizisten und dreier Schießklub-Mitglieder.

Eine Leiche wird aus dem Gemeindesaal der Zeugen Jehovas transportiert

Ob dieser Ausgang vermeidbar gewesen wäre, untersucht die Hamburger Staatsanwaltschaft Foto: Christian Charisius/dpa

HAMBURG taz | Wäre die Amoktat gegen die Zeugen Jehovas in Hamburg zu verhindern gewesen, der Anfang März sieben Menschen zum Opfer gefallen sind? Schon kurz nach der Tat lag der Verdacht nahe, weil immer mehr Details ans Licht kamen über Pannen der Polizei im Vorfeld der Tat.

Und auch der Schießverein ­„Hanseatic Gun Club“, bei dem sich der Amoktäter Philipp F. vor der Tat registriert hatte, steht seither in der Kritik: Über den Klub, unweit der Hamburger Binnenalster gelegen, kam F. kurz vor der Tat als Sportschütze in den legalen Besitz einer Pistole. Die Hamburger Generalstaatsanwaltschaft hegt den Verdacht, dass in der Polizei und beim Schießklub kriminell gehandelt wurde: Unter anderem wegen fahrlässiger Tötung ermittelt sie nun, am Donnerstag ließ sie die Wohnungen von vier Beschuldigten durchsuchen.

So durchsuchten die Er­mitt­le­r:in­nen die Wohnung eines Mitarbeiters der bei der Hamburger Polizei angesiedelten Waffenbehörde. Auch in dessen Dienstraum in der Waffenbehörde tauchten die Er­mitt­le­r:in­nen am Donnerstag auf. „Gegen den Mitarbeiter der Waffenbehörde bestehen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der fahrlässigen Tötung in sechs Fällen sowie der fahrlässigen Körperverletzung im Amt in 14 Fällen“, teilte die Staatsanwaltschaft Hamburg mit.

Er soll vor der Tat einen Hinweis über Philipp F. erhalten haben, diesen jedoch weder dokumentiert noch an seine Kol­le­g:in­nen der Waffenbehörde weitergeleitet haben. Bei dem Beamten soll es sich um einen Kontrolleur für Waf­fen­be­sit­ze­r:in­nen handeln. Und: Er war wohl mehrere Jahre lang neben seinem Hauptberuf auch als Schießlehrer im Hanseatic Gun Club tätig.

Schießklub hatte die Waffenbehörde informiert

Bei diesen Hinweis über Philipp F. geht es um eine Warnung vor dessen Gefährlichkeit: Ein Verwandter von ­Philipp F., so berichtete es die Zeit, hatte sich im Januar zunächst an den Sportschützenklub gewandt, um mitzuteilen, dass der 35-Jährige psychisch krank und immer aggressiver sei. Der Hanseatic Gun Club wiederum – so berichtete es ein Sprecher des Schießklubs dem Onlinemedium „t-online“ – hatte den Mitarbeiter der Waffenbehörde darüber informiert.

Konkret habe dieser ein Schreiben aus dem familiären Umfeld des Amokläufers, das Ende Januar bei der Behörde eingegangen war, nicht ordnungsgemäß bearbeitet. „Er wies insbesondere nicht darauf hin, dass er ein am 24. Januar 2023 bei der Waffenbehörde eingegangenes ‚anonymes‘ Schreiben selbst als Form der Benachrichtigung vorgeschlagen hatte und um mögliche Urheber sowie weitere Hintergründe des Schreibens wusste“, teilt die Staatsanwaltschaft nun mit.

Die Folge: Der zuständige Sachgebietsleiter der Waffenbehörde ordnete „nur eine unangekündigte Aufbewahrungskontrolle für die im Besitz von Philipp F. befindliche Schusswaffe an, anstatt sich gezielt weitere Informationen zu verschaffen und die Schusswaffe nebst Munition sodann umgehend sicherzustellen“, so die Staatsanwaltschaft. Tatsächlich hatte die Waffenbehörde auf Grundlage der anonymen Warnung lediglich eine „unangekündigte Aufbewahrungskontrolle“ der Schusswaffe bei Philipp F. angeordnet.

Aus diesem Grund hatte auch die Hamburger Polizei schon dienstrechtlich gegen den Beamten ermittelt. „Nachdem dieser Vorwurf sich bestätigt hat, ist ein formelles Disziplinarverfahren im Hinblick auf unterlassene Beratungs- und Unterstützungspflicht eingeleitet worden“, teilte sie auf Nachfrage mit. Er sei mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben in der Waffenbehörde entbunden worden.

Ob aber die Polizei dem Amoktäter nicht auch ohne die zusätzlichen vom Beamten vorenthaltenen Informationen die Waffen hätte wegnehmen können, steht weiter zur Diskussion: Die Polizei habe den Brief zwar ernst genommen, sich aber in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt gesehen, hatte Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer nach der Tat erklärt. Dass eine gründliche Internetrecherche Anlass zu berechtigter Sorge am psychischen Zustand von Philipp F. gegeben hätte und zu einem Entzug der Waffe hätte führen können, hatte sich jedoch bereits kurz nach der Tat angedeutet.

Generalstaatsanwaltschaft Hamburg

„Der Prüfungsausschuss hatte Philipp F. ‚blanko‘ ein auf den 28. April 2022 datiertes Sachkundezeugnis ausgestellt“

Gegen drei Mitglieder des Schützenvereins wiederum laufen Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der Falschbeurkundung im Amt. Sie sitzen im Prüfungsausschuss des Vereins. „Der Prüfungsausschuss hatte Philipp F. ‚blanko‘ ein auf den 28. April 2022 datiertes Sachkundezeugnis ausgestellt“, heißt es seitens der Staatsanwaltschaft.

Dieses Sachkundezeugnis ist nach dem deutschen Waffenrecht Voraussetzung zum Umgang mit Waffen und Munition. Wer das Zeugnis erhalten will, muss neben einer theoretischen auch eine praktische Prüfung erfolgreich absolvieren. Vor dem Prüfungsausschuss des Klubs musste auch Philipp F. einen sicheren Umgang mit Waffen vorweisen. Dazu gehört etwa, dass eine Waffe nach dem Schießen wieder gesichert abgelegt wird.

Jedoch soll er bei dieser Prüfung durchgefallen sein. Daraufhin jedoch soll F. die Prüfung nicht wiederholt haben. „Stattdessen soll ein Mitglied der Prüfungskommission eine angeblich erfolgreich verlaufene ‚Nachprüfung‘ vorgenommen haben, die anschließend mit dem Sachkundezeugnis gegenüber der Waffenbehörde dokumentiert wurde“, so die Staatsanwaltschaft. Folglich: Philipp F. hätte keine Waffe besitzen dürfen, die drei Verdächtigen sollen das erst illegal ermöglicht haben.

Dabei soll es sich jedoch nicht um ein einmaliges Vorgehen gehandelt haben. Sie sollen in der Vergangenheit „in einer Vielzahl von Fällen unzutreffende Sachkundezeugnisse ausgestellt und damit die Durchführung einer irregulären Nachprüfung gegenüber der Waffenbehörde verschleiert haben“, teilt die Staatsanwaltschaft mit.

Damit steht auch die Frage zur Zukunft des Hanseatic Gun Clubs, der den Schießstand als kommerzielles Unternehmen führt, im Raum. Fraglich ist, ob er als Betreiber noch geeignet und zuverlässig ist, wie es das Waffengesetz vorschreibt. Danach sieht es gegenwärtig nicht aus, auch wenn der Klub auf seiner Homepage noch immer damit wirbt, bei den Schüt­z:in­nen „eine entsprechende Bewertung von Zuverlässigkeit, physischer und psychischer Eignung vorzunehmen“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.