piwik no script img

Schwachstellen von DemokratienMacht Geschichte etwa dumm?

Erinnerungspolitik: In München dachten HistorikerInnen und Intellektuelle drei Tage lang über „Fragile Demokratien“ nach.

Nach Milošević und Saddam gilt Putin derzeit als Hitlers Reinkarnation Foto: Erin Lefevre/NurPhoto/imago

Der russische Außenminister Lawrow soll am 24. Februar 2022 ratlosen Oligarchen gesagt haben, Putin höre derzeit nur noch auf drei Berater: „Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen und Katharina die Große.“ Ob das sich so zugetragen hat, weiß man nicht – aber es trifft ins Schwarze. Putin hat in seinen berüchtigten historischen Essays die Blaupause für den Krieg gegen die Ukraine entwickelt. Der kaputte Traum, eine Art Zar des 21. Jahrhunderts zu werden, ist ein ex­tremes Beispiel für die zerstörerische Wucht pathologischen Lernens aus der Geschichte.

Der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel befasste sich bei der Münchner Tagung „Fragile Demokratien“ im NS-Dokumentationszentrum in der letzten Woche mit der Frage, ob „Putin Macht über die Vergangenheit“ hat. Ein role model für Putin ist Peter der Große, der im Nordischen Krieg im frühen 18. Jahrhundert nach furchtbaren Niederlagen am Ende Schweden als europäische Großmacht ablöste. Die titelgebende Frage kann man auch umdrehen. Hat die Vergangenheit Macht über Putin?

Auch Geschichtspolitik in Russland spiegelt die Verwandlung in eine Diktatur. 2023 wurde erstmals mit staatlichem Segen eine Stalin-Büste eingeweiht. Kritik am Großen Vaterländischen Krieg ist strafbar, Memorial ist verboten. Putin hat seine Position in der Mitte zwischen Neo-Stalinisten und Aufklärern der sowjetischen Geschichte geräumt, so Schulze Wessel. Dass russische Truppen in Mariupol ein Holodomor-Denkmal zerstörten, ist das geschichtspolitische Symbol dieses Angriffskriegs – die Ukraine soll als Nation ausgelöscht werden.

Erinnerungspolitik wird in Russland zusehends von oben diktiert. Ob Zweifel und Kritik zulässig sind, mag eine Grenzmarkierung zwischen Diktatur und Demokratie sein. Die Beziehung zwischen Demokratie und Geschichte ist kniffliger, komplizierter, abgründiger, als es Putins finsteres Negativprospekt nahelegt.

Profunde Selbsttäuschung

Es gibt auch im Westen mitunter pathologisches Lernen aus der Geschichte. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze attestierte der Bundesrepublik eine profunde Selbsttäuschung. Laut einer Umfrage glauben viele, dass in den frühen 30er Jahren eine Inflation Hitler den Boden bereitete. Das Gegenteil war der Fall: Die extreme Arbeitslosigkeit war Ergebnis von Deflation und Sparpolitik. Doch im bundesdeutschen Gedächtnis scheint die Inflation 1923 mit Hitlers Aufstieg verklebt.

Das ist eine Rückprojektion der zum Fetisch erhobenen bundesdeutschen Stabilitätskultur, in der Schulden irgendwie böse sind, die Währung hart sein muss und Südeuropa als unsolide gilt. Schon das Wort „Stabilitätskultur“ zeige an, so Tooze, dass hier finanzpolitische Ins­trumente merkwürdigerweise in das Inventar des bundesdeutschen Selbstbildes aufgerückt sind. Sie werden – siehe Schuldenbremse – entsprechend verbissen verteidigt. Diese monetäre Mythologie ist für ein Land, das so donnernd stolz auf seine historische Reflexionsfähigkeit ist, dann doch verblüffend.

Die Mutter der manipulativen Benutzung historischer Bilder in der Gegenwart ist der Hitler-Vergleich. Nach Milošević und Saddam gilt Putin derzeit als Hitlers Reinkarnation. Analytisch ergibt es dabei wenig Sinn, russischen Revanchismus, ein antisemitisches Welteroberungsprojekt und eine arabische säkulare Diktatur in eins zu setzen.

Die Analogiebildung ist Historie für schlichte Gemüter. Den Erkenntniswert dieses Gleichheitszeichens gering zu nennen, ist untertrieben. Um die schlagende Evidenz von „Putin gleich Hitler“ zu begreifen, muss man noch nicht mal wissen, was Einsatzgruppen waren. Macht Geschichte vielleicht dumm?

Demokratien auf dem Rückzug

„Vergleiche sind politische Waffen“, sagte die israelische Historikerin Shulamit Volkov. „Aber ohne Vergleiche können wir nicht arbeiten.“ Der Vergleich ist in den historischen Wissenschaften ein nötiges Instrument der Erkenntnis, um Ähnliches und Verschiedenes zu identifizieren. Im politischen Feld wird Vergleich hingegen reflexhaft in Gleichsetzung übersetzt und verwandelt sich vom wissenschaftlichen Erkenntnismittel in einen rhetorischen Vorschlaghammer.

Demokratien sind global auf dem Rückzug. Mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung leben (laut Zahlen des V-Dem-Instituts) in autokratische Regimen, weniger als 15 Prozent in echten Demokratien. Auch modellhafte Demokratien stehen unter Stress. In Schweden, so Thomas Etzemüller, haben Neoliberalismus, Globalisierung und Individualisierung die lang solide sozialdemokratische Konsensgesellschaft zerschossen.

Das Erbe beanspruchen nun Rechtspopulisten, die mit aggressiver Nostalgie das Volksheim exklusiv für Weiße reservieren wollen. Die Sozialdemokratie schaut dabei eher ratlos zu.

Die Krise der westlichen Demokratien spiegelt sich auch in rissig gewordenen nationalen Erzählungen. Das zeigte die französische Historikerin Elise Julien kompakt am Beispiel der französischen Meistererzählung. 1789 gilt als Chiffre für die Geburt der Republik und des Universalismus.

Die von Pathos umwehte nationale Erzählung sichert den Zusammenhalt, entfaltet Integrationskraft – und hatte von Beginn an etwas Verklärtes, ja Legendenhaftes. „Das Vergessen und der historische Irrtum sind ein wesentlicher Faktor für die Schaffung einer Nation“, schrieb der französische Historiker Ernest Renan 1882 in dankenswerter Klarheit.

Wo bleibt das Positive?

Diese Meistererzählung steht heute, so Julien, von zwei Seiten unter Stress. Es gelingt der politischen Klasse nur mühsam, unleugbar gewordene Schattenseiten wie die Sklaverei und die Kollaboration mit den Nazis in die Meistererzählung zu integrieren. Auf der anderen Seite versuchen Rechtsextreme wie Éric Zemmour eine um Universalismus und Menschenrechte amputierte, ethnisch verengte nationale Erzählung zu etablieren. Laut Julien mit erschreckendem Erfolg.

Welche Geschichte braucht Demokratie? In Deutschland hält man historische Aufklärung oft für eine Art Schutzfolie gegen totalitäre Versuchungen. Dass Jüngere bestürzend wenig über die NS-Geschichte wissen, gilt nicht nur als besorgniserregendes Zeichen der Schwäche des hiesigen Bildungssystems – es löst auch staatsbürgerliche Alarmstimmung aus. Das ist eine Überfrachtung erinnerungspolitischer Pädagogik. Der Historiker Michael Wildt betonte zu Recht, dass es nützlicher sei, das Positive der Demokratie zu unterstreichen, als die Schrecken des Antidemokratischen an die Wand zu malen.

Gefahren und Fragilität überall. Wo bleibt das Positive? Die produktive Kraft historischer Selbstaufklärung deutete der Publizist Dipo Faloyin in einer skizzenhaften Geschichte Nigerias an. Nigeria ist eine koloniale Konstruktion, die 500 Ethnien mit ebenso vielen Sprachen und vielfältigen Konflikten in einem Staat zwangsvereinigte.

Das Ziel der britischen Kolonialherren war es, mit Chaos und Gewalt zu regieren. Diese koloniale Signatur prägt und blockiert, so Faloyin, der in Lagos aufwuchs und in London lebt, die politische Struktur Nigerias bis heute. Ohne historisches Selbstbewusstsein scheint die endgültige Befreiung von kolonialen Mustern schwer möglich zu sein. Geschichtliches Bewusstsein kann also klug machen, wenn es Gegenwart als gewordene, veränderbare Konstruktion sichtbar macht.

Gefahr der Selbstviktimisierung

Auch das kann Fallstricke haben. Die nationalen Erzählungen haben sich in letzten Jahrzehnten global von Akteurs- hin zu Opfererzählungen verschoben. Die bergen immer die Gefahr, in Selbstviktimisierung zu führen, die hinterrücks Täter-Opfer-Bilder einbetonieren.

Die Ukraine, so Schulze Wessel fast enthusiastisch, „zeigt die Kraft der Demokratie“. Also hier die mürbe gewordenen alten westlichen Demokratien – dort die pulsierende ukrainische Zivilgesellschaft? Das wäre eine Art neuer Exotismus. Und eine Unterschätzung der Fragilität der ukrainischen Demokratie.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Speziell in Bezug auf den Krieg in der Ukraine vernimmt man derzeit die Aussage "aus allen Wolken gefallen" zu sein. "Aus allen Wolken gefallen" ist die direkte Antwort auf das "Wolkenkuckucksheim" (Aristophanes). Diese Metapher gibt es in vielen Sprachen und sie bedeutet, man hat den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Etwas abgeschwächte Formen dieser Aussage betreffen die Entwicklung Russlands seit den Neunziger Jahren.

    Aber warum hört man diese Aussage? Für einen "Gelernten DDR-Bürger" war doch schon seit 2000 oder früher klar, wohin Russland gehen wird. Die russische Entwicklung zum Totalitarismus hätte jeder politisch denkende Mensch sehen können. Die Neunziger Jahre Russlands waren nur eine Zwischeneiszeit. Und es hilft auch nicht, auf die Machtübergabe an Hitler zu verweisen. Das dauerte damals nur 3 Jahre und Auslöser waren in Deutschland der nach der Hyperinflation falsch gemanagte Aufschwung und die ebenso katastrophal gemanagte Weltwirtschaftskrise (A. Tooze: Statistics and the German State 1900-1945). Aus der Geschichte lernt man nur bei genauer Analyse.

    Dass Russland nicht erst seit 2000 eine Gesellschaft mit der Charakteristik der frühen Sklavenhalter ist, erkennt man schon aus Bezeichnungen wie "Iwan der Grausame" (Iwan Grosny). Damals wie auch noch heute konnte der Herrscher, ob er sich nun Zar, Generalsekretär, oder Präsident nannte, ihm unliebsame Menschen willkürlich quälen lassen bis zur Ermordung (Anna Politkowskaja 2005 ...). Wer das beschönigend zu entschuldigen versucht, macht sich selbst schuldig. Es bringt nichts, diesen Charakterzug des russischen Volkes zu leugnen, er ist das Ergebnis von fast 1000 Jahren brutaler Herrschaft. Leider ist das eine äußerst unbequeme Wahrheit. Psychologie und Psychoanalyse bringen hier nur dann etwas, wenn man sie in die Geschichte einbettet. Die Deutschen waren übrigens nach 1933 schon ein großes Stück auf diesem Weg.

    Es ist auch gefährlich, auf die Niederlage Russlands zu setzen, wie es manche tun.

  • Echt gut. Ein Teaser nach dem anderen. Irgendwie will ich jetzt mehr über die Vorträge wissen.

  • Bei dieser Tagung wäre ich gerne dabei gewesen.

    Vielen Dank für diese interessanten Zusammenfassungen und Einblicke.