piwik no script img

Wahlen in der TürkeiOpposition schießt Eigentor

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Das Bündnis, das Erdogan ablösen wollte, scheitert an einer Einigung über den Gegenkandidaten. Für den Autokraten ist das ein Geschenk des Himmels.

Ekrem Imamoglu und Mansur Yavas Foto: Burhan Ozbilici/ap

M onatelang hat das türkische Oppositionsbündnis von sechs Parteien miteinander verhandelt. Zuerst über gemeinsame politische Ziele wie die Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie und die Rückabwicklung der Präsidialdiktatur oder die Wiederherstellung der Gewaltenteilung. Was die Opposition aber vor allem eint, ist ihre Gegnerschaft zum amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Deshalb war von Beginn an der wichtigste Punkt, einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten gegen Erdoğan aufzustellen, denn nur so gäbe es eine realistische Chance, den amtierenden Autokraten abzulösen. Genau an der Frage aber hat es nun geknallt. Meral Aksener, die Vorsitzende der zweitgrößten Partei des Bündnisses, hat von Anfang an klargemacht, dass sie Kemal Kilicdaroglu, den Vorsitzenden der CHP, der größten Partei des Bündnisses, nicht für einen geeigneten Präsidentschaftskandidaten hält.

Sie wollte keinen Kandidaten ihrer eigenen Partei, sondern entweder den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas. Beide gehören ebenfalls der CHP an, aber beide liegen in Umfragen mit Erdoğan gleichauf oder sogar vor ihm, während Kilicdaroglu in der Gunst der WählerInnen weit abgeschlagen ist.

Trotzdem hat Kilicdaroglu an seiner Kandidatur festgehalten und auch seine beiden Parteimitglieder, İmamoğlu und Yavas verpflichtet, ihn zu unterstützen. Nun sagen manche Leute, nach dem Erdbeben liegt Erdoğan so darnieder, dass die Opposition auch einen Besenstiel aufstellen könnte und würde trotzdem gewinnen. Aksener ist nicht dieser Meinung, sondern sie will den stärksten Kandidaten.

Das Problem von İmamoğlu_ ist, dass er bereits in erster Instanz verurteilt wurde und als Kandidat vor der Schwierigkeit stünde, dass er noch vor dem Wahltag auch in letzter Instanz verurteilt und damit als Kandidat aus dem Rennen genommen werden könnte. Aksener hat aber völlig zu Recht darauf bestanden, man könne nicht einfach den Parteivorsitzenden der stärksten Partei der Opposition zum Kandidaten machen, wenn der erkennbar von den Wählerinnen nicht gewollt wird.

Will die Opposition ihre Chancen für die Wahl im Mai erhalten, muss sie sich nun dringend einigen. Sonst zerstört sie die Hoffnungen von Millionen von TürkInnen, die nach 20 Jahren endlich einen anderen Präsidenten als Erdoğan haben wollen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Gut, dass ihr diesen Artikel überarbeitet habt. Vorher stand irgendwas mit „Aksener war zurecht gegen Kilicdaroglu ...“. Ich hatte mich schon gewundert, warum eine deutsche linke Zeitung türkische Rassisten (Aksener) Partei unterstützt!!!

  • Liebe Türkinnen und Liebe Türken,



    mit Sorge betrachte ich seit Jahren die Entwicklung in Eurem Land.



    Die große Gruppe an TürkInnen in Deutschland sehe ich als Bereicherung an und pflege Freundschaften.



    Dies sei nur als Hintergrund erwähnt, damit deutlich wird, dass Ihr mir am Herzen liegt.



    Bitte, einigt Euch auf einen aussichtsreichen Kandidaten, bitte wählt Erdogan ab!

  • Die Autokratie Erdogans und seiner zur allmächtigen Staatspartei avancierten AKP kann überhaupt nur gebrochen werden, wenn es gelingt, die säkularen Kräfte von links bis hin zur politischen Mitte in einem gemeinsames Bündnis zu bündeln .



    Damit ist es jetzt leider vorbei. Wegen der Sturheit eines Mannes, der glaubt, als CHP-Vorsitzender automatisch das Zugriffsrecht auf das Präsidentenamt in der Türkei zu haben … als ob für die CHP, der einstigen Staatspartei Atatürks und Inönus, heute noch die Bäume in den Himmel wachsen würden.



    Die Zeiten sind lange vorbei, nur Kilicdaroglu hat das nicht begriffen und versucht - im Grunde nicht viel anders als Erdogan - seinen Machtanspruch mit Hilfe des alten, die türkische Innenpolitik so lange dominierenden Patronage- und Klientelsystems aufrecht zu erhalten.

  • So unsympathisch die mindestens in der Vergangenheit extrem nationalistische und damit auch gewalttätigen Töne von Meral Aksener auch sind, so könnte es in der Tat zur Tragik werden, wenn sich die Opposition nicht einig wird und sich der lachende Dritte freut.

    • @PolitDiscussion:

      Der türkische Nationalismus als Staatsideologie in seiner kemalistischen Variante ist in der Tat das zentrale innenpolitische Problem … auch die säkulare Opposition gegen den islamo-nationalistischen Kurs der AKP (so nenne ich es mal) kann sich von dieser Doktrin nicht lösen (es verhält sich ähnlich wie mit dem Zionismus in Israel).



      Das erklärt die nationalistischen Positionen von Meral Aksener, aber mit der CHP verhält es sich im Grunde nicht besser … nur die HDP und ihre pro-kurdischen Vorgängerparteien haben hier eine konsequent andere, oppositionelle Politik verfolgt. Die Konsequenz sind immer neue Schikanen durch den Staatsapparat, bis hin zu Parteiverboten. Der CHP kann das nicht passieren, deshalb gilt die Türkei formal als Demokratie … und, na ja, sie ist als NATO-Mitglied ja auch unsere Verbündete, was aus geopolitischen Gründen unerlässlich ist.