Die Wahrheit: In der Kasseler Unterwelt
Als es noch den Underground der Fuzo gab. Eine Reminiszenz an das Großstadt-Feeling in der Provinz.
H in und wieder besuche ich meine Heimatstadt Kassel. Ich betreibe dort dann semisentimentale kulturwissenschaftliche Studien. Neulich stand ich auf dem Platz vor dem alten Hauptbahnhof und trauerte um die Kasseler U-Bahn. Die es nie gab. Dazu ist die „Stadt der Künste und Kongresse“ – so die Eigenwerbung in den Siebzigern – bei aller Liebe und ihren plus/minus 200.000 Einwohnern dann doch zu klein.
Was es aber gab, war eine solitäre U-Bahn-Station. Eben dort: unter dem Vorplatz des Hauptbahnhofes. Mit allem Drum und Dran: U-Bahn-Schildern, Rolltreppen und einer schicken Ladenzeile auf einer „B-Ebene“.
Welche Drogen man damals, 1968, in Kassel genommen haben muss, um auf die Idee zu kommen, eine stinknormale Straßenbahn ohne Not vor dem Bahnhof mal kurz unter die Erde tauchen und sie direkt dahinter wieder aus dem Hades herausfahren zu lassen, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.
Vermutlich wollte man ebenso modern sein wie der ewige hessische Konkurrent Frankfurt, der gleichzeitig eine mehr oder weniger richtige U-Bahn baute. Im Übrigen eine komplett größenwahnsinnige Referenzgröße, weil Frankfurt schon damals dreimal so viel Einwohner zählte und Standort eines riesigen Flughafens und internationaler Banken war.
Einzig beim direkten Geschmacksvergleich der lokalen Spezialitäten Handkäs mit Musik und Ahle Wurscht hat Kassel bis heute die Nase und Zunge vorn. Ansonsten lebten wir eben im Zonenrandgebiet, in der Hauptstadt von Hessisch-Sibirien, und freuten uns, mit DDR 1 und 2 immerhin zwei TV-Sender mehr als die Frankfurter empfangen zu können.
Allerdings erinnere ich mich daran, dass wir, nachdem wir uns als Jugendliche durch das Anschauen von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ über die Drogenkonsumgewohnheiten von echten Großstadt-Teenagern informiert hatten, in die U-Bahn-Station pilgerten, um dort zwar keine Opiate, aber immerhin leichte Cannabisprodukte zu uns zu nehmen. Das fühlte sich geradezu authentisch an.
Als ich dann einige Jahre später zum Studium ins noch kleinere Hildesheim zog, stellte ich fest, dass man für eine U-Bahn-Station noch nicht mal einen Bahnanschluss brauchte. Um eine innerstädtische Straße zu Fuß kreuzen zu können, baute man dort keine Ampelquerung, sondern eine berolltreppte Unterführung, so weit, so üblich, stattete diese dann aber mit Läden – Popcorn, Billigklamotten, Ledergürtel – aus, ließ das Ganze dann gezielt verranzen und verrotten und pinselte so auch dort für 25 Meter einen charmant urban-urinigen Heroin-Chic unter die Erdoberfläche. Manchmal stellte ich mich einfach so für fünf Minuten in diesen „U-Bahn“-Tunnel. Und atmete ein. Und durch.
Beide Unterwelten sind inzwischen Geschichte. Verrammelt. Verschüttet. Vergessen. In diesem Sinne: Gern geschehen.
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