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Interview mit der Regisseurin Ayşe Polat„Diese Geister verfolgen die Leute“

Ayşe Polats Film „Im toten Winkel“ behandelt ein universelles Thema. Er erzählt, wie Traumata über Generationen weitergegeben werden.

Regisseurin Ayse Polat Foto: Wolfgang Borrs
Interview von Fabian Tietke

Ein Team aus Deutschland dreht im Nordosten der Türkei einen Dokumentarfilm über den verschwundenen Sohn einer Frau in den kurdischen Bergen. Den Kontakt zu Hatice, der Mutter des Sohnes, hat ein Anwalt hergestellt. Beim Treffen mit dem Anwalt in der Stadt fällt dem Team ein schwarzer Pickup auf. Bei einer Aufnahme in einem Café kann Melek, das junge Mädchen, auf das die Übersetzerin Leyla aufpasst, dem Anwalt plötzlich die Farbe seines Autos und den Namen seines Sohnes sagen. Bald ist klar, Leylas Nachbar Zafer ist Teil einer kriminellen Organisation. Die Zwischenfälle beginnen zu eskalieren. Ayşe Polats „Im toten Winkel“ erzählt die Handlung in drei Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven.

taz: Frau Polat, wann haben Sie sich für die Form entschieden, die Handlung des Films aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen?

Ayşe Polat: Die Form war recht früh da. Die zwei Filme, die ich davor gemacht habe (A. d. R.: „Die Erbin“, 2013 und „Die Anderen“, 2016) und die ich mit wenigen Mitteln, ohne Förderung gedreht habe, hatten auch schon diese Form. Es ging auch um ähnliche Themen, um Traumata. Im Rückblick ist „Im toten Winkel“ der letzte Film einer Trilogie über Traumata in der Nordosttürkei. Während ich den Dokumentarfilm „Die Anderen“ gedreht habe, war ich oft in Istanbul und bin am Wochenende an den Samstagsmüttern vorbei gegangen, die seit 1995 Fotos ihrer verschollenen Söhne zeigen. Das hat mich jedes Mal sehr berührt, wie diese Mütter mittendrin in dieser Einkaufsmeile sitzen wie eine Wunde. Mir war aber klar, ich will nicht nur die Opferseite zeigen und ich will das Thema anders beleuchten, will eine andere Heran­gehensweise nutzen.

Im Interview: Ayşe Polat

Die Regisseurin Ayşe Polat wurde 1970 in Malatya geboren. 1978 zog sie mit ihren Eltern nach Hamburg. Sie studierte Philosophie, Kultur­wissenschaften und Germanistik in Berlin und Bremen. Ihr Langfilm­debüt „Auslandstournee“ (2000) lief auf verschiedenen Festivals. „En garde“ wurde 2004 in Locarno ausgezeichnet, „Die Erbin“ lief 2013 auf dem Filmfestival von Rotterdam.

Wie sah das konkret aus?

„Im toten Winkel“ ist ja ein Genrehybrid, fängt als Sozialdrama an und wird zum Thriller. Es geht um den toten Winkel, den Raum, den man trotz Hilfsmitteln nicht einsehen kann, und hier ist der Raum natürlich die grausame Geschichte, die bis heute unverarbeitet und verdrängt ist. Dieses unverarbeitete Trauma gebiert in dem Film über die Generationen hinweg Geister. Diese Geister verselbständigen sich, verfolgen die Leute, um auf sich aufmerksam machen, um benannt zu werden und so diesen Kreislauf zu durchbrechen. Das schien mir eine gute Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern. Dazu kam der Entschluss, sich dem Thema auch von der Täterseite her zu nähern und mit Found Footage, mit Handymaterial zu arbeiten. So hat sich das aufgebaut, aber schon der allererste Entwurf des Drehbuchs vor fünf Jahren war in drei Teile geteilt.

Im ersten Teil sucht der Kameramann des deutschen Teams, das den Dokumentarfilm drehen will, konsequent pittoreske Bilder und damit ziemlich zielstrebig die falschen Bilder zum Thema. Was hat es damit auf sich?

Es geht in dem Film um den Blick und das Sehen. Melek, das Kind, ist die Einzige, die in den toten Winkel hineinschauen kann. Gleichzeitig ist „Im toten Winkel“ auch ein Film über das Filmemachen. Dafür war es gut, mit einem europäischen Team in die Türkei zu gehen. Aber das ist natürlich auch ein postkolonialer Ansatz. Das Team bleibt außen vor. Dieser Kameramann hat einfach gar keinen Bezug zum Thema, der kommt einfach dahin und will schöne Bilder machen. Selbst bei Simone, der Filmemacherin, die interessiert ist und sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, merkt man, allem guten Willen zum Trotz, dass das ein äußerlicher, oberflächlicher Blick auf die Region bleibt. Der – ohne zu viel zu verraten – nicht gut endet für das Team.

Was hat Sie daran gereizt, sich der Repression von der Täterseite zu nähern?

Einerseits kennt man die Opferseite schon, andererseits war es mir wichtig zu zeigen, dass die Gewalt auch auf der Täterseite Spuren hinterlässt. Auch wenn die Spuren ganz andere sind als bei den Opfern, ist klar, dass auch sie die Ereignisse einholen werden. Ein System, das auf Paranoia, Angst und Kontrolle beruht, wird sich irgendwann selbst auffressen. Ich wollte sehen, was aus denen geworden ist, die damals Hatices Sohn entführt haben. Wie gehen die Täter mit ihren Taten um? Zafer merkt ja, dass irgendwas nicht funktioniert, aber er kann es nicht fassen.

Der Film ist ja in der Türkei gedreht. War das ein Problem für die Schauspieler_innen, die in der Türkei leben, einen solchen Film zu drehen?

Bis auf Aybi Era (A. d. R..: die die Übersetzerin Leyla spielt) und die deutschen Schauspieler_innen leben alle in der Türkei. Die Schauspieler_innen haben die Bücher bekommen und wussten, worum es in dem Film geht. Aber am Ende ist es doch fiktional. Das Thema in einem Genrefilm zu erzählen abstrahiert das Ganze. Der Film ist kein Abbild der politischen Lage in der Türkei. Das wäre auch nicht meine Aufgabe, ich wollte eine Atmosphäre einfangen. Ich wollte in dem Film etwas Uni­verselles erzählen, nicht nur über die Türkei und die Kurden, sondern ­darüber, was passiert, wenn man Traumata über Generationen weitergibt und sich nicht mit ihnen beschäftigt.

Çağla Yurga in „Im toten Winkel „ von Ayse Polat Foto: Mitosfilm

Çağla Yurga, die Zafers Tochter Melek spielt, stand das erste Mal vor einer Kamera. Wie war das, mit ihr zu arbeiten?

Das war ein Glücksfall. Mir war klar, dass Melek das Herz des Filmes ist. Wir haben ein Jahr gecastet, und dann habe ich sie gesehen. Ich hatte schon in ihrem Showreel gesehen, dass sie einen ganz eigenen Blick hat, und dann hatte ihre Mutter den Raum nicht gefunden und Çağla war müde und wollte erst nicht, hat es dann aber doch versucht. Sie saß mir gegenüber und hat mich angestarrt. Und da war diese Kombination aus diesem unglaublich Süßen und etwas Unheimlichen.

Am Anfang war sie erst fünfeinhalb und hat gar nicht verstanden, was da alles passiert. Es war klar, dass sie keine Texte auswendig lernen kann, und wir haben das dann so gelöst, dass ich ihr die Texte vorgesprochen habe, so wie ich sie haben wollte, und sie hat das eins zu eins nachgesprochen. Aufgrund ihres Alters wird sie den Film bei der Premiere nicht sehen. Es ist schade, dass sie den Film erst in neun Jahren sehen kann, aber das ist halt so.

Es gibt einige Filme zum türkisch-kurdischen Verhältnis. In diese Linie reiht sich ihr Film ein, aber würden Sie sagen, dass „Im toten Winkel“ konkrete zivilgesellschaftliche Prozesse in der Türkei aufgreift?

„Im toten Winkel“

20. 2., 10.30 Uhr, International

20. 2., 13.30 Uhr, Zoo Palast 3/4/5

20. 2., 22 Uhr, Cubix 5

26. 2., 13 Uhr, Cubix 7

Das Interesse ist vielleicht eher auf der europäischen Seite. Viele wissen ja gar nicht, was die Samstagsmütter sind, es gibt zu wenig Neugier für das, was in der Türkei passiert. Das finde ich schade. Hier leben ja ganz viele Menschen mit türkischen, kurdischen Wurzeln. Man hat ja in der Reaktion auf das schreckliche Erdbeben gesehen, wie verbunden diese Menschen bis heute mit den Ereignissen in der Türkei sind. Ich würde mich freuen, wenn es da von deutscher, von europäischer Seite mehr Auseinandersetzung gäbe.

Also eher eine Intervention in eine nicht vorhandene Auseinandersetzung in Deutschland?

Das ist überspitzt, aber ich vermisse eine gewisse Neugier. Es sind ja bestimmt auch Samstagsmütter nach Deutschland gekommen. Ich würde mir wünschen, dass man einen Teil dieser Vergangenheit annimmt als einen Teil der deutschen Vergangenheit. Es ist einfach auch eine Aufgabe, bestimmte Dinge weiterzugeben und die Erinnerung aufrecht zu erhalten.

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