piwik no script img

Geschichte eines verfemten JudenrettersIm Dickicht des Krieges

Diese Geschichte ist kompliziert. Sie handelt davon, wie ein ukrainischer Bandera-Nationalist im Zweiten Weltkrieg Juden vor dem Holocaust bewahrte.

Retter und Bandera-Kämpfer: Ilko Sawtschin Foto: Archiv Alexander Gogun

Bei Recherchen im amerikanischen Holocaust-Memorial-Museum in Washington und während meines Post-doc-Aufenthaltes in Israel stieß ich auf eine recht komplizierte Geschichte, die sich in den Jahren 1942 bis 1944 tatsächlich zugetragen hat. Sie handelt, meine ich, auch davon, dass die historische Wirklichkeit in der Ukraine, diesem in dieser Zeit von Krieg, Vertreibungen und dem Holocaust gebeutelten Gebiet, unübersichtlich ist und dass Reaktionäre und Opfer, Nationalisten und Befreier nicht immer klar zu unterscheiden sind.

Beginnen wir mit der Vorgeschichte und der Geburt der Helden dieser Erzählung.

Eine Woche vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde im Dorf Korostow in der Nähe des Städtchens Skole im damals österreich-ungarischen Galizien, ein Mensch namens Ilko Sawtschin in eine ukrainische Bauernfamilie geboren. Den Ersten Weltkrieg verfluchen viele Bewohner Osteuropas bis heute. Denn in einer verhältnismäßig ruhigen und wohlgeordneten Region kam es, nachdem als Folge des Krieges Polen wieder als Nationalstaat auf der Weltkarte auftauchte, zu ethnischen Konflikten, die eine lange nicht dagewesene Ausprägung erreichten.

Ilko Sawtschin ist der eine Held dieser Geschichte. Ihr zweiter Held heißt Benek Lieblain; er hat sie mir auch erzählt. Lieblain erblickte im gleichen Landkreis wie Sawtschin, nur etwas später, nämlich 1930 in der Familie eines jüdischen Landwirts das Licht der Welt – also in der Zeit, als die Organisation Ukrainischer Nationalisten eine antipolnische Sabotagekampagne durchführte.

Die Wut der Unterdrückten

Er berichtet, dass sich die Wut der von den Machthabern unterdrückten Ukrainer nicht nur gegen die Vertreter des wiederauf­erstandenen polnischen Nationalstaats richtete, sondern auch gegen die Juden: „Irgendwann im Jahr 1936 wurden in Skole bei den Juden – und diese stellten die Mehrheit der Bevölkerung – die Scheiben eingeschlagen. Das war schrecklich. Ich erinnere mich, dass nicht weit entfernt in einem kleinen Dorf eine vierköpfige jüdische Familie erstochen wurde. Ihre Beerdigung wurde zu einem Ereignis für den ganzen Ort.“

Diese traurigen Exzesse hinderten die Kinder verschiedener Nationalitäten jedoch nicht daran, gemeinsam Lapta (Schlagball) zu spielen. Auch konnte die Familie Lieblain, ohne schräg angeguckt zu werden, im polnischen Laden gelegentlich Schinken kaufen.

Benek Lieblain nach seiner Rettung Foto: Archiv Alexander Gogun

1939 wurde Polen, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, dann wieder aufgeteilt, nun zwischen Nazideutschland und der Sow­jet­union. An die Ankunft der seinen Worten zufolge heruntergekommenen Rotarmisten hat Benek Lieblain zwiespältige Erinnerungen. In der Schule wurde anstelle von zwei Sprachen – der Unterrichtssprache Polnisch und einer Stunde in der Woche Ukrainisch – allein Russisch eingeführt, was dem Kind damals als Erleichterung erschien.

Gleichzeitig musste der Vater unter dem Druck der Machthaber sein gesamtes Vieh verkaufen und von Erspartem leben. Die Familie zog aus einer großen in eine kleine Wohnung.

Eine Zeit des Grauens

Im Jahr 1941, nachdem Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, musste sich die Rote Armee vor den deutschen Truppen zurückziehen, und in Skole fielen ungarische Honveds ein, die auf Seiten der Deutschen kämpften und sich den Einwohnern vor allem durch ihr Marodieren einprägten. Doch wurden sie bald durch nach außen hin gepflegt aussehende Deutsche ersetzt – und für die Juden begann eine Zeit des Grauens.

Im Verlaufe der „ersten Aktion“ wurde ein Teil des Ortes bereits im September 1941 „evakuiert“. Andere, darunter das Familienoberhaupt der Lieblains, wurden zu Zwangsarbeiten gedungen – Waldarbeiten, Brückenbau, Reparatur von Straßen. Bezahlt wurde dafür nicht ein Groschen. Die Familie schlug sich mit Ersparnissen durch und verkaufte heimlich verstecktes Korn ebenso wie Kleidung, nicht selten an die eigenen ehemaligen ukrainischen Tagelöhner.

Langsam, aber sicher verbreiteten sich Gerüchte darüber, was mit den „Evakuierten“ geschah, auch wenn die Menschen sich zunächst weigerten, an sie zu glauben.

Dow (Benek) Lieblain auf dem Balkon seiner Wohnung in Jerusalem neben der israelischen Flagge Foto: Alexander Gogun

Zur gleichen Zeit, als die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad kämpfte, wurde in Skole die „zweite Aktion“ durchgeführt. Benek Lieblain erinnert sich, dass es die jüdische Polizei war, die bewaffnet mit Schlagstöcken in die Wohnungen stürmte und die eigenen Stammesangehörigen auf den zentralen Platz zerrte. Seine Mutter rief ihm zu: „Lauf weg!“

Auf der Flucht

Es gelang ihm zu fliehen, in einem halbverlassenen Örtchen konnte er sogar seinen Onkel Aron Wilf zusammen mit dessen Frau und zwei Kindern finden. Etwas später übergab Arons Bruder ihnen außerdem noch seinen Sohn Mejer zur Rettung. Somit waren es sechs Flüchtlinge.

Beim Überleben half ihnen die feste Freundschaft Aron Wilfs mit einem Mann namens Michajlo Swistun, der in Korostow lebte. Dieser arbeitsame Bauer hatte seinerzeit von seinem Vater eine kleine Hütte geerbt, aber inzwischen für seine Familie eine neue gebaut. Das alte Haus, dessen Fenster längst mit Bohnenstauden bewachsen waren, richtete er für die sechs Juden her. Den Dachboden rüstete er zusätzlich mit einem kleinen Geheimversteck aus, für den Fall einer Durchsuchung. Die Flüchtlinge zogen also ins Dorf.

Im Verlaufe des gesamten Jahres 1942 gewann der im Untergrund agierende Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten unter der Führung des heute hoch umstrittenen ukrainisch-nationalistischen Unabhängigkeitskämpfers Stepan Bandera, welcher damals in KZ Sachsenhaus saß, schrittweise an Einfluss in der Westukraine.

Ilko Sawtschin, unser erster Held dieser Geschichte, war niemand anderes als der Anführer der Bandera-Zelle in der Gegend. Ihn hatte Swistun vor Beginn der Judenrettung auch um Erlaubnis gefragt. Sawtschin war sein Schwager, auf dessen Hilfe er ein Recht hatte zu hoffen. Außerdem wäre es ohne Sawtschins Mitwirken kaum möglich gewesen, die Rettung umzusetzen. Denn für sechs Menschen musste Essen beschafft werden, und nur wenn diese Aufgabe auf mehrere Menschen verteilt würde, konnte man vermeiden, Verdacht zu erregen.

Eine tödliche Last

In der Zeit, als die Rote Armee ihre Kräfte am Dnepr konzentrierte und Kiew stürmte, begannen die Deutschen in Skole immer häufiger Razzien durchzuführen, weshalb die Flüchtigen gezwungen waren, aus der Hütte in den Wald zu verschwinden.

Auf dem Weg brach sich Mejer ein Bein. Da er glaubte, für die anderen nun eine tödliche Last zu sein, bat er Ilko Sawtschin, der als Bandera-Anhänger ein Gewehr bei sich trug, ihn zu erschießen. Michajlo Swistun jedoch war medizinisch bewandert, er richtete den Bruch und legte eine Holzschiene an. Ilko Sawtschin fertigte Krücken an und brachte Mejer in das erste Versteck der Überlebensgruppe. Nach zwei Monaten begann das Kind wieder zu laufen, die Folgen des Bruchs waren kaum zu bemerken.

Michajlo Swistun war nun gezwungen, im Laufe von anderthalb Jahren drei Erdlöcher für seine Schützlinge zu graben. Das erste dieser Verstecke erinnerte an eine Bärenhöhle, er befand sich unter einem großen Baumstumpf. Doch der Ort war ungünstig gewählt; er war umgeben von altem Wald, der gut einzusehen war. In der Nähe vorübergehende Leute winkten den Flüchtlingen schon mal freundlich zu, lange konnte das nicht gut gehen.

Versteckt im Wald

Das zweite Versteck befand sich in einem dicht bewachsenen Waldstück, in dem die Baumkronen ausreichend Sichtschutz boten. Aber Anfang 1944 spülte ein dreitägiger Regen das Erdloch weg. Deswegen wurde eine dritte Behausung ausgegraben und hergerichtet, sie befand sich relativ weit oben in den Karpaten; dort zu graben war nicht einfach.

Essen brachten abwechselnd Michajlo Swistun oder Ilko Sawtschin in das Dickicht, teilweise versorgte sich die Gruppe auch aus dem Wald. Eines Tages hörten die Flüchtlinge beim Pilzesammeln Gesang – einen ukrainischen Militärmarsch – und sie ließen sich ins Gras fallen. Wie sie nachher erfuhren, war gerade eine Einheit der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) vorbeigegangen.

Allerdings vermieden die Überlebenden jeglichen Kontakt mit Partisanen, seien es sowjetische oder nationalistische. Unter anderem auch deswegen, weil in diesem Gebiet ein Kommandeur einer der Unterabteilungen der Aufstandsarmee namens Suslenytsch agierte. Über ihn erzählte man sich, dass seine Kämpfer die sich im Wald versteckenden Juden ermordeten.

Überfall auf ein Gefängnis

Anfang des Jahres 1944 erwärmten sich in Anbetracht der Offensive der Roten Armee, die von beiden als Feind betrachtet wurde, die Beziehungen zwischen der Ukrainischen Aufstandsarmee und der Wehrmacht; zu vollkommenem Einvernehmen zwischen ukrainischen Nationalisten und deutschen Besatzern kam es jedoch nicht.

Einmal kam Ilko Sawtschin zu den jüdischen Flüchtlingen ins Erdloch und blieb dort einige Wochen lang. Wie sich Lieblain erinnert, berichtete der Bandera-Anhänger, er habe in der Nähe einen Überfall auf ein deutsches Gefängnis organisiert. Seine Kämpfer hatten die in Gefangenschaft befindlichen ukrainischen Nationalisten und Juden befreit, weswegen er gezwungen war, eine Zeit lang unterzutauchen.

Einige Zeit versteckten sich im gleichen Erdloch auch der Bruder Michajlo Swistuns zusammen mit seiner Frau und seinem Kind vor den Besatzern. Benek Lienlain erinnert sich, wie der kleine Junge sich verwundert an seinen Vater wandte, nachdem er die Nachbarn betrachtet hatte: „Das sind Juden, aber die haben ja gar keine Hörner und Schwänze!“

Um historische Gerechtigkeit bemüht

Nach der Rückkehr der Roten Armee, deren Vorhut die Holocaust-Überlebenden fürchteten, kehrten die Flüchtenden in das halb zerstörte Skole zurück, von wo aus sie einen langen Weg antraten – über Polen und Italien in die USA und nach Israel. Im Jahr, als der Zweite Weltkrieg ­endete, erreichten Benek Lieblain und Mejer Wilf Palästina, wo Benek seinen Namen ins Hebräische übertrug und von nun an Dow genannt wurde.

Die Arbeit, das fortgeschrittene Alter und familiäre Pflichten hinderten ihn nicht daran, sich um historische Gerechtigkeit zu bemühen. Im gleichen Jahr, als Gorbatschow in der UdSSR die Macht übernahm, erhielt Michajlo Swistun auf Antrag von Dow Lieblain den Status eines Gerechten unter den Völkern. Und nachdem die UdSSR zerfallen und damit geschehen war, was sich sowohl die Bandera-Leute als auch die Zionisten erträumt hatten, wurde es für alle Beteiligten ungefährlich zu versuchen, auch die Verdienste Ilko Sawtschins anzuerkennen.

Die Tochter dieses Bandera-Anhängers, Irina, die in den Jahren des Krieges geboren wurde, erzählte mir, dass ihr Vater auch nach dem Krieg im nationalistischen Untergrund der Ukraine tätig gewesen sei. Nach außen hin arbeitete er jedoch noch zwei Jahrzehnte nach der zweiten Ankunft der Sowjets vollkommen legal an seinem Wohnort in der Holzverarbeitung. Das Holz wurde an die Rote Armee geliefert. Ilko Sawtschin starb im letzten Jahr des Tauwetters, am 30. Juni 1964, dem Jahrestag des Ausrufens der ukrainischen Unabhängigkeit durch die Nationalisten in Lwow in 1941.

Auch zur Verewigung der Erinnerung an Ilko Sawtschin als Gerechter der Völker stellte Dow Lieblain einen Antrag im Museum Yad Va­shem. Er wurde jedoch abgelehnt, weil der Kandidat ein OUN-Mitglied war. Aber für Lieblein bleibt Sawtschin ein Retter. Nach den Worten des gebürtigen Galiziers rettet ein Mensch, der einem anderen das Leben rettet, auch dessen Nachkommen das Leben: „Wir waren zu sechst. Zum Jahr 1985 waren es schon 26, jetzt sind es noch mehr. Zum Beispiel habe ich drei Kinder, acht Enkel und zwei Urenkel. Alle leben in Israel.“

Der Autor ist Militärhistoriker und forscht an der Freien Universität Berlin: gogun.org/de.

Dem Artikel liegt ein Studienaufenthalt am Institut für die Untersuchung des Holocausts in Yad Vashem zugrunde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare